"Ende ohne Anfang"

"Ende ohne Anfang" von Felix Berner

Zwischen Erinnern und Vergessen

„Ende ohne Anfang“ von Felix Berner feiert das kreative Potenzial der geistigen Zwischenwelt am Theater der Jungen Welt in Leipzig

Die Gießkanne gluckert, im Garten zwitschern die Vögel und das Klavier im Nachbarhaus spielt Musik. Alles ist normal und Sofiia (Sofiia Stasiv) hat ihr Leben im Griff. Komplett. Aber nicht für lange.

Leipzig, 27/02/2022
Am Anfang von „Ende ohne Anfang“ dirigiert sie ihre vier Mitspieler*innen durch die Gegend, wer wo steht und welche Requisite wo ihren Platz hat wie eine resolute Inspizienz-Diktatorin. Bei aller Schärfe im Ton ein durchaus lockerer zum Schmunzeln verlockender Einstieg, denn schon bald bricht diese klare Welt der Sofiia zusammen. Zu den gelesenen Regieanweisungen erscheinen die falschen Leute, bringen die falschen Requisiten, fehlen die live von Alida Bohnen eingespielten Soundeffekte zu den Schritten oder Schrittsounds ohne Bewegung. Die Welt, also die anderen Spieler*innen, verselbstständigen sich, gehen eigene oder fremde Wege, und selbst der Text, meist vorgetragen von Tobias Amoriello, verselbstständigt sich: „Der Boden wischt den Feudel.“ Doch natürlich hat diese Auflösung der Ordnung ein kreatives Potenzial und sehr hohen Zuschauwert.

Ein choreografisches Theaterstück über das Erinnern und Vergessen nennt Choreograf Felix Berner seine Produktion, die er mit einem Team von drei Schauspieler*innen und zwei Tänzer*innen am Theater der Jungen Welt inszeniert hat. Beide Prozesse sind dabei nichts Lineares, sondern führen auf der Bühne zu kreativen Neuschöpfungen und lustigen Verwirrungen. Wenn etwa Sofiia beim Erinnerungsspiel ständig die Gegenstände umstellt oder Luise Audersch immer wieder andere große und kleine Topfpflanzen auf die Bühne räumt, sind es primär humoristische Effekte, deren Sinnhaftigkeit sich erst im Laufe des wiederholenden Ablaufs erschließt. Auch die Live-Toneffekte gewinnen ihre Wirkung erst in dem Moment, wo sie eben nicht mehr synchron sind mit den Bewegungen, worauf dann die Protagonistin Sofiia mit Verwirrung reagiert – als einzige. Denn dieses Rausfallen aus der Realität wird ja erst dann zum Problem, wenn es kein kollektiver Rausch ist, sondern der Rest der Welt „normal“ weiterläuft, nur eben man selber nicht. Genau für dieses Phänomen findet der Abend tolle Übersetzungen und Bilder, die alle mit kleinen Mitteln und ebensolchen Verschiebungen arbeiten.

Auch die minimale Ausstattung von Nanna Neudeck mit klaren Akzenten wie dem Klavier oder einem metallischen Vorhang, der buchstäblich als Soundkulisse genutzt werden kann, sorgt für unverstellte Zugänge. Zugleich aber lässt dies natürlich viel Platz für die Spieler*innen. Wenn Denis Cvetković mit einer Fliegenklatsche zur tänzerischen Kampfchoreografie lädt, dann steht der Spaß eindeutig im Vordergrund. An anderer Stelle erwachen die zahlreichen benutzten Alltagsgegenstände in Form eine Puppe (erdacht von Rebekah Wild) zum Leben und schieben eine weitere Ebene der Verfremdung in den Abend. Einer der schönsten Momente ist sicherlich, wenn Stasiv und Cvetković eine eigentlich nebeneinander stattfindende Sitzchoreografie zusammen tanzen aber auf der Bühne weit entfernt sind – Erinnerung als Entfremdung.

Gegen Ende der einstündigen Inszenierung implodiert das Set von Routinen und Regeln endgültig. Die Ebenen brechen zusammen, und Sofiia erleidet einen psychischen Zusammenbruch, was ungemeine tänzerische Energien freisetzt, von denen die Sofiia-Figur einfach mitgerissen wird. Bloß um am Ende im Rendezvous mit dem großen schwarzen wabernden Nichts des Vergessens zu versinken. Dieses Nichts wabert in Form eines riesigen schwarzen Plastiksacks auf die Bühne, um sie zu verschlucken. Doch dieses Nichts, wir wissen es aus Michael Endes unendlicher Geschichte, ist stets auch ein Anfang. Also doch kein Ende ohne Anfang?

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