"Beethoven. Unerhört. Grenzenlos."(Willer Gonçales Rocha und Emanuele Senese)

"Beethoven. Unerhört. Grenzenlos." von Guido Markowitz und Damian Gmür. Tanz: Willer Gonçales Rocha und Emanuele Senese

Vom Einreißen der Mauern

Das Theater Pforzheim verbindet mit "Beethoven. Unerhört. Grenzenlos." professionelle Tänzer mit Laien aus dem Urban Style.

Die Idee von der Erneuerung des Menschen und der Welt hat er musikalisch umgesetzt. In Pforzheim reißt der Mensch tänzerisch die leitmotivische Mauer ein, um sie wieder aufzubauen.

Pforzheim, 30/01/2022

Als gäbe es keine Zeit zu verlieren, fällt gleich der Einstieg dramatisch aus: Ein im Tosen des Sturms taumelnder Mann landet an einer Mauer, kann gerade noch mit krakeliger Schrift „Wir stürzen“ an dieselbe schreiben, die letzten Buchstaben sinken mit ihm zu Boden. Und dann: Peng! Wummernde Elektro-Musik attackiert die Ohren der Besucher bei der Ballett-Premiere „Beethoven. Unerhört. Grenzenlos.“ im Stadttheater Pforzheim. Eine Tüte bunte Smarties wird auf der Bühne ausgeschüttet. So jedenfalls wirkt die in verschiedene knallige Farben gekleidete Ballett-Compagnie, die unter der Regie von Ballettchef Guido Markowitz und seinem Stellvertreter Damian Gmür deren beider Handschrift zu einem noch nie da gewesenen Experiment vermengt. Übrigens mit fantastischen und den Profis in fast nichts nachstehenden Tänzern des vom Land geförderten Projekts „Urban Dance Lab“. Im Rahmen dessen werden dem urbanen Tanz Verschriebene Laien ins Boot des städtischen Balletts geholt.

Nicht nur die beiden Stile von Markowitz und Gmür fließen ineinander, wenn ersterer sich den Themen sehr emotional mit Blick auf die Gesamtperspektive nähert und letzterer auf die Details in den Bewegungen im Fokus hat. Zudem vermischen sich genau so Profis und Halbprofis unter Einflüssen des Hip-Hop. Als wäre diese Mischung nicht schon beeindruckend, serviert Fabian Schulz als Sounddesigner die elektronischen Klänge, während Robin Davis seine Badische Philharmonie Pforzheim zu Höchstleistungen anspornt. Dabei geht es um nichts Geringeres als Beethovens 9. Sinfonie, deren Götterfunke-Chor allerdings pandemiebedingt nur aus der Konserve kommen darf. Mit der emotionalen, Gänsehaut verursachenden 7. Sinfonie, kreiert Davis fast schon eine eigene Sinfonie.

Es ist denn auch das Thema Ludwig van Beethovens, der mit diesen Kompositionen die Idee von der Erneuerung des Menschen und der Welt symbolisieren wollte, die auch dank Dramaturgin Alexandra Karabelas Eingang ins Ballett von Pforzheim gefunden hat. Für Guido Markowitz gleicht „die Neunte“ dem „Einreißen von Mauern“. Und so ist die Mauer das Leitmotiv der Aufführung, die Schutz bietende, die aber auch Abgrenzung schaffende Mauer. An dieser Ambivalenz arbeitet sich das Ensemble im wahrsten Sinn des Wortes ab. Was im Kopf bleibt ist ein buntes Gewimmel, ein Kratzen, Hochklettern, sich herunter Stürzen von einer aus tragbaren Quadern gebauten Mauer, ein Niederreißen (was den Blick auf das Orchester frei gibt), ein Wiederaufbauen, ein Ziehen, Zerren, synchrone Gruppenbewegungen mit sich heraus kristallisierenden Soli. Die Duette und Trios zeigen die ganze Bandbreite an menschlichen Gefühlen, wobei Verzweiflung hier am intensivsten wirkt. Sich aus der Menge heraus schälende Individuen frieren ein, werden überrannt, zurückgezerrt in die Masse. Und doch suchen sie immer wieder die Vereinzelung. Das ist sehr schön dargestellt. Und diese Arbeit geht mutige Wege: Die Tänzer entblößen nicht nur in den Bewegungen ihr Innerstes, zum ersten Mal tanzt hier auch ein weibliches Ensemblemitglied „oben ohne“ – oder hat es das schon mal gegeben?

Während sich die Masse noch in der Nähe der eingerissenen Mauer tummelt und offenbar die Freiheit feiert, baut eine Tänzerin diese schon wieder auf. Und schon sind die Menschen wieder damit beschäftigt, ihre Kämpfe miteinander auszufechten. Bis sich die Tür in der Mauer – mit dem französischen Symbol der Freiheit in Gestalt des Marianne-Kopfes – wieder einen Spalt öffnet, buntes Laub hereinweht und die Ahnung von frischer Luft. Das Spiel geht von vorne los. Nicht gerade ermutigend, aber gleichzeitig weiß der Zuschauer, dass das eben das Los der Menschheit ist. Wenn sie sich dabei in ästhetischen Bewegungen verliert, wie an diesem Ballettabend, ist das ja immerhin ein Trost. Und die Musik tut ihr Übriges, um sicher in jedem Zuschauer eine innere, sensible, emotionale Saite zum Schwingen zu bringen.

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