"Dragons" von Eun-Me Ahn

"Dragons" von Eun-Me Ahn

Höchstleistungen

Die erste Woche beim Festival Tanz Bremen

Die Arbeiten der Choreograf*innen beim diesjährigen Festival bestechen mit physischer und emotionaler Verausgabung, die das Publikum restlos begeistert.

Bremen, 11/05/2022

Der Drache, in der christlichen Welt eher ein zu besiegendes Untier, nimmt in der asiatischen Welt einen hohen Rang ein und wird mit Werten wie Weisheit, Kraft und Mut verbunden. Die sieben realen und sechs virtuellen „Dragons“ in Eun-Me Ahns gleichnamiger Choreografie - am Eröffnungsabend von TANZ Bremen präsentiert - strotzen nur so vor Kraft und Lebensfreude, ja sie inspirieren das Publikum, die Sorgen des Alltags für eine Stunde lang zu vergessen und sich an die Urfreude am Leben, am Dasein zu erinnern.

In einer anfangs in Slow Motion dargebotenen und später immer mehr an Fahrt aufnehmenden Szenenfolge entwickeln sich Tanzbilder, die in ihrer knalligen Farbigkeit an Pop Art erinnern. In glänzenden Kostümen: kurze oder extra lange schillernde Röcke für Tänzer beiderlei Geschlechts wirbeln diese über die Bühne, schlagen Purzelbäume, springen Salti oder gleiten wie schwebend durch den mit unzähligen Blechröhren begrenzten Raum. Das Bühnenlicht wechselt zwischen neutral weiß und knallbunt: Pink, Blau, Grün - die Choreografie changiert zwischen zeitgenössischem Tanz, koreanischem Schamanismus und Elementen des Modern Dance. Sie ist dabei so elegant und erfrischend jugendlich, dass man sich die Augen reibt und fragt, wie so etwas eine 59-jährige Choreografin, die am Ende auch noch selber mittanzt erschaffen kann. Entstanden z.T. noch in Zoom-Meetings während der Pandemie tanzen dann auch sechs virtuelle Tänzer*innen auf einer Gaze am Portal mit. Die Dualitäten von männlich und weiblich, von real oder virtuell werden in diesen zum Teil märchenhaften Bildern mehr und mehr aufgelöst und der Abend endet in einem grandiosen Finale, in dem die Tänzer*innen neben den tanzenden Hologrammen Platz nehmen und sich voll Freude und Lebensenergie an allen nur möglichen Stellen des Körpers beklatschen, gerade so, als ob sie sich und das Publikum wachrütteln und aus der Corona-bedingten Tristesse herausholen wollten. Ein von stürmischem Applaus begleitetes Ende eines beeindruckenden Eröffnungsprogrammes: der Tanz als Freudenbringer!

Einen intensiven und atmosphärisch dichten Auftritt legt die Rubberband aus Montréal mit „Ever so slightly“ als Auftakt des vom Canada Council of the Arts massiv geförderten Fokus Kanada hin. In einer Hybridform aus Rockkonzert und Tanzperformance beeindruckt der Choreograf Victor Quijada mit seiner 10-köpfigen Kompanie und zwei Musikern, die live performen und Elektrobeats mixen. Durch die Einbindung urbaner, bodennaher Tanztechniken in ein szenisches Konzept entsteht ein berührender Tanzabend: „Vraiment doucement“ - wirklich sanft kommt dieser Hip Hop daher, zeigt sich spielerisch und leicht. Doch dahinter steckt harte Arbeit und tägliches Training in der „Rubberband-Methode“, die aus den drei Elementen Hip Hop, Ballett und Theaterspiel besteht. Die je fünf Tänzer und Tänzerinnen beeindrucken durch enorme Präsenz und Konzentration, mit der sie sich durch die z.T. akrobatischen und kämpferischen Szenen bewegen. Alles fließt und wirkt unaufwendig: sie gleiten, fallen, schrauben sich wieder in die Vertikale und das alles im Tempo und absolut synchron!

Ernüchternd hingegen wirkte der Auftritt der deutsch-Koreanerin Olivia Hyunsin Kim: ihr mutiger nackter Auftritt und ihr durchaus honoriger Ansatz, Kolonialismus und Rassismus aus ihrer feministischen Perspektive heraus kritisch zu beleuchten, erschloss sich dem Publikum letztendlich nicht. Das angekündigte Fest zur Feier der eurasischen Erdplatte entpuppte sich als Mitmachaktion, in der das Publikum zu ohrenbetäubendem Trommel-Lärm selbst auf die Bühne gebeten wurde.

Andrea Peña & Artists aus Montréal präsentierten als Europapremiere mit „Manifesto“ eine unglaublich intensive Performance, die in ihrem bewegungstechnischen Minimalismus in repetitiver Form eine starke Faszination ausübte. In drei großen Tableaus erschafft sie mit ihren Tänzer*innen Bilder von suggestiver Kraft, einsamen Kämpfen oder sogartiger emotioneller Zugewandtheit. Im ersten Bild werden zur Ansage einer weiblichen Computerstimme auf einer Art Schachbrett Bewegungssequenzen nach dem Zufallsprinzip getanzt. Es wirkt wie ein Warm-Up für die zwei folgenden Abschnitte, in denen sich - die in transparenten Kostümen gleichzeitig sinnlich wie verletzlich wirkenden Tänzerkörper - in eine Trance und kollektive Euphorie hineintanzen. Andrea Peña & Artists experimentieren mit Gefühlsclustern, indem sie versuchen, zwei oder mehrere zum Teil konträre Emotionen gleichzeitig darzustellen. Dabei entstehen Bilder von ungeheurer Dichte, ja fast apokalyptischen Ausmaßes.

Wenn die in diesem Festival fokussierte künstlerische Tätigkeit und Sichtweise der Frauen eines zeigt, dann ist es das: Frauen können sehr mutig und radikal sein, vor allem aber können sie Ihre Mitstreiter*innen zu Höchstleistungen motivieren, zu einer physischen und emotionalen Verausgabung, die das Publikum restlos begeistert!

In der zweiten Woche von TANZ Bremen geht der Fokus auf eine Werkschau von Bremens Hauschoreograf Samir Akika und seinen Gästen. Digital Dialogues an Bremer Fassaden und diverse Workshops: „Voguing“ mit Brian Mendez, „Stop Techniques“ mit Robozee sowie Einblicke in die Arbeitsmethoden von Vanessa Goodman und Niv Sheinfeld ergänzen das Programm.   

 

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