"Die Jahreszeiten" von Martin Schläpfer, Tanz: Hyo-Jung Kang, Davide Dato, Marcos Menha

„Seht, wie der strenge Winter flieht!“

Joseph Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“: Inspiration für Martin Schläpfers neues Ballett an der Wiener Staatsoper

Gleichberechtigung tatsächlich alles Vorhandenen: Klassik und Neoklassik ergänzen sich.

Wien, 02/05/2022

Nun also Joseph Haydns weltliches Oratorium „Die Jahreszeiten“, 1801 in Wien uraufgeführt,  als Ballett in der Wiener Staatsoper: Mit einer Pause nach dem „Herbst“ macht das aufführungstechnisch einen satten Dreistünder, in dem das eindrucksvolle Sänger-Trio, Sopranistin Slávka Zámecniková als Hanne, Tenor Josh Lovell als Lukas und Bass Martin Häßler als Simon und der für spezielle Herausforderungen immer prädestinierte Arnold Schönberg-Chor unter Erwin Ortner (statt des hauseigenen Chors) vom Graben aus den durchaus luxuriösen Boden für die Tanz-Szenen oben liefern. Ihr Partner ist das Staatsopernorchester unter Einspringer Adam Fischer, Giovanni Antonini musste wegen einer positiven Covid-Testung bereits die Probenphase absagen. Nun wäre es nicht Wien, wenn sich nicht hier bereits die Geister scheiden würden: in jene, die Originalklang hören wollen, Antonini gute Besserung wünschen und John Eliot Gardiner als Referenz anführen. Und jene, die Adam Fischer nicht minder schätzen und ihm nicht übelnehmen, dass die Probenzeit womöglich doch knapp war und ihren heftigen Applaus dem musikalischen Anteil des Abends und da vor allen den Sängern widmen.

Der Initiator dieses ungewohnten Abends, Ballettdirektor Martin Schläpfer, verweist mit seiner Wahl erneut auf seine Vorliebe für Musik, die nicht notwendigerweise nach Szenischem verlangt. Sein letztes Beispiel galt im Februar Beethovens 4. Klavierkonzert mit dem versehenen Ballett-Titel „In Sonne verwandelt“ in der Volksoper. Der scheinbaren Absolutheit der gewählten Musik muss der inszenierte Tanz in solchen Fällen mit einem sehr guten Grund entgegentreten, um Partner zu sein, um sich zu behaupten, im Idealfall visionär, auch um Fragen zu stellen. Schläpfer legt sein Vorhaben nicht tänzerisch historisierend an, er illustriert auch nicht den naiv-eingängigen Text von Gottfried van Swieten, der das Leben auf dem Lande beschreibt, auch wenn sich manche Stellen tänzerisch und musikalisch kurz zu entsprechen vermögen.

Es wirkt vielmehr, als begreife er die zahlreichen Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts vor allem in ihrer Individualität und verfahre mit ihren Qualitäten wie ein Tonsetzer. So betrachtet ergibt sich eine musikgeleitete Dramaturgie, die zwischen Soli, Duos (zum Beispiel Claudine Schoch und Alexey Popov), Trios (immer wieder Hyo Jung-Kang, Davide Dato und Marcos Menha) pendelt und da eine eigene Qualität von moduliertem, feingetuntem und musikalischem Bewegungsverhalten hervorbringt, das sich in größeren Gruppen so nicht widerspiegelt. Ein zentrales Solo gehört dem Schläpfer-Tänzer Marcos Menha, der im „Sommer“ in goldschimmernder weiter Hose Finger nach Finger auf dem Boden aufsetzt und ein temperiertes Tanzspiel beginnt. Das kann Schläpfer – in Miniaturen Fragilität und Intensität erzielen, quasi laut und leise und zig Abstufungen dazwischen. Attacke und scheinbarer Stillstand, Zeitlupe, kraftvolle und verletzliche Frauen und Männer. Was sich nicht ergibt, sind größere Zusammenhänge, vielmehr entsteht eine Akkumulation von Auftritt und raschem Abtritt. Wenn Gruppen anheben, fühlt man sich an Artikulationen erinnert, die auf Inspiratoren wie Hans van Manen zurückgehen, Ähnlichkeit mit George Balanchines Purismus haben, aber auch die Klassizität eines „Schwanensee“ in sich tragen. Das mag Resultat einer sehr offenen Zwiesprache sein, die der Choreograf mit seinen sehr unterschiedlichen Tänzern hat, aber auch einfach auf seinen Umgang mit der Gleichberechtigung tatsächlich alles Vorhandenen, wenn man so will kontrollierter Darstellungsfreiheit: Klassik und Neoklassik, zeitgenössischer Umgang mit dem Boden. Und immer wieder in Lichtvierecken anekdotisch wirkende gestische Symbolsprache als Reaktion auf die Rezitative.

Die Welteinsichten sind bunt, die sich hier auf dunkler Bühne abzeichnen. Sie wird von einer glänzenden, offenbar auf eine Muschelform zurückgehenden, kreisförmig bewegten Dekoration von Mylla Ek dominiert, die Designerin zeichnet auch für die zahlreichen, sehr diversen stoff- und farbenreichen Kostüme verantwortlich. Fast möchte man sagen: Es lebe die Artenvielfalt. Im „Winter“ schließlich geht es um das „Ganze“, und die ausgeklügelten Formen weichen auf zugunsten des Miteinanders und des Menschseindürfens. Als Nachbild inmitten der Menge bleibt einmal mehr Marcos Menha haften, der seine Finger ausstreckt zwischen Bühnen-Himmel und Tanz-Erde. So tun es auch die Anderen.

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