Die Ambiguität des Schweigens

Interview-Reihe zum Förderprogramm DIS-TANZ-SOLO: Judith Nagel, Tänzerin und Choreografin

Judith Nagel spürte in Kollaboration mit der Plattform re-dance den unterschiedlichen Dimensionen von (Ver-)Schweigen in Mutterschaft und Tanz nach

Frankfurt/Main, 13/01/2022

Im vergangenen, von der Corona-Pandemie geplagten Theaterjahr unterstützte das Förderprogramm DIS-TANZ-SOLO vom Dachverband Tanz Deutschland e. V. als Teil des HILFSPROGRAMMS TANZ / NEUSTART KULTUR soloselbständige Tanzschaffende. In einer Interviewreihe befragt tanznetz.de einige Künstler*innen, deren künstlerische Projekte im Rahmen dieses Programms gefördert wurden, zu ihren Erfahrungen mit DIS-TANZ-SOLO. Wie bewerten sie den Nutzen und die Nachhaltigkeit der Förderung? Und welchen Stellenwert nimmt diese für das künstlerische Schaffen in Zeiten der Pandemie ein?

Judith, was war Deine Idee für DIS-TANZ-SOLO?

Als Tänzerin, Choreografin und Mutter in der freien Tanzszene widmete ich mich mit der Unterstützung von Dis-Tanz-Solo im Rahmen einer Recherche den verschiedenen Aspekten des Schweigens in Mutterschaft und Tanz. Schweigen als ein Raum des Hinhörens, als ein Raum der Entfaltung der Wirklichkeit. Schweigen als Verschweigen, als Verdrängung der Wirklichkeit. Seit geraumer Zeit befasse ich mich schon mit dem Thema der unterschiedlichen Dimensionen und der Ambiguität des Schweigens. Während meines letzten Projekts mit re-dance, einer Plattform, die Tanzkünstler*innen mit Kindern kollektive Lösungsansätze bietet, habe ich mit anderen Tänzerinnen und Müttern untersucht, wie sich Mutterschaft und Tanz durch Bewegungspraxis und -kreation gegenseitig ergänzen können. Es stellte sich heraus, dass Schweigen und Verschweigen auch für Tänzerinnen mit Kindern ein sehr relevantes und vielschichtiges Thema ist. Die mütterlichen Perspektiven wurden und werden sehr oft aus wesentlichen gesellschaftlichen Debatten ausgeklammert oder verschwiegen. Auch Tänzerinnen, die Mütter sind, verschweigen. Sie verschweigen ihr Muttersein, um bessere Chancen auf einen Job zu haben, verschweigen Überforderung, Unzufriedenheit oder traumatische Geburtserlebnisse. Neben den innerlichen Auswirkungen des Verschweigens führt diese aktive Zurückhaltung zu einer Verzerrung der Wirklichkeit und gibt dem Gegenüber – der Öffentlichkeit – nicht die Möglichkeit, die Situation richtig einzuschätzen, zu verstehen und dadurch Veränderungen herbeizuführen. Schweigen als ein Raum des Hinhörens. Als Eltern werden die schon wenigen Momente der Ruhe noch weniger, da ein neuer Mensch auf Erden den Alltag bestimmt. Vor allem für Mütter ist diese Form der Stille, des Hinhörens aber wichtig, um nachzuspüren, was eigentlich gerade mit dem eigenen Leben passiert. Wo stehe ich? Wer bin ich? Was brauche ich? Durch das Residenzprogramm ID_Tanzhaus in Frankfurt am Main habe ich dann die Möglichkeit bekommen, mit anderen Müttern und Tänzer*innen diese Thematik noch einmal zu vertiefen und gemeinsam zu recherchieren. Den Prozess habe ich aktiv auf Instagram über die re-dance-platform via Posts, Stories und IGTV-Live-Events geteilt, um dem Thema eine größere Sichtbarkeit zu verschaffen und auch um verschiedene Perspektiven und Feedbacks zu erhalten und in den Austausch zu gehen.

Warum hast Du dieses Förderprogramm gewählt?

Ich konnte mit dieser Förderung erst einmal in die Recherche gehen. Es ist Arbeit, die meist unbezahlt bleibt und durch Dis-Tanz-Solo habe ich die Möglichkeit bekommen, intensiv in die Recherche zu gehen.

Was hat die Förderung speziell in den hochpandemischen Zeiten für Dich bedeutet? Finanziell und inhaltlich?

Im Jahr 2020 und 2021 wurden viele beruflichen Möglichkeiten abgesagt und dadurch entstand auch finanziell ein großer Engpass. Finanziell hat mir die Förderung eine große Sicherheit gegeben, da ich die Recherche individuell anpassen konnte und somit nicht eventuellen neuen Regelungen in der Pandemie ausgeliefert war. Noch viel bedeutender – meiner Meinung nach – war und ist aber das Gefühl gehört, gesehen und als Künstlerin geschätzt zu werden. In einer Zeit, als in system-relevant oder nicht unterschieden wurde, und die Künstler:innen in der Gesellschaft als nicht relevant galten, habe ich durch Dis-Tanz-Solo das Gegenteil erfahren und habe mich durch diese Förderung sehr bestärkt und ermutigt gefühlt.

Stehen Antragsaufwand und Nutzen im richtigen Verhältnis?

Absolut. Es ist einer der unbürokratischsten Anträge, die ich kenne.

War der Förderzeitraum ausreichend, um Dein Projekt abzuschließen bzw. zu wirklicher Vertiefung zu gelangen?

Ja, ich hatte 4 Monate Zeit, um in die Tiefe zu gehen.

Wie nachhaltig findest Du Dein Projekt? Kannst Du jetzt noch davon profitieren?

Definitiv. Mit den Erkenntnissen der Recherche konnte ich weiterführende Anträge für eine performative Stückentwicklung stellen. Durch eine Zusage eines anderen Förderprogramms habe ich momentan die Möglichkeit mit Proben zu beginnen. Ohne die Recherche mit Hilfe von Dis-Tanz-Solo hätte ich diese Möglichkeit wahrscheinlich nicht bekommen.

Würdest Du anderen Künstler*innen oder Tanzschaffenden eine Bewerbung bei dieser Förderung empfehlen?

Zu 100 %!

Was bedeutet der Begriff „Distanz“ – DIS-TANZ – für Dich?

Wie bereits erwähnt, wurde die künstlerische Szene, vor allem am Anfang der Pandemie in nicht relevant für das System eingestuft. Zur Kunst und zum Tanz wurde eine große Distanz geschaffen. Viele Jobs wurden aufgrund der Pandemie nicht möglich. DIS-TANZ beutetet für mich, dass der Tanz auch in den Zeiten des Abstands weiterlebt und vielmehr der Tanz die Distanz nutzt, um neue Möglichkeiten zu finden.

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