Alex Ursuliak trainiert Tänzer*innen des Bayerischen Junior Balletts München

Alex Ursuliak trainiert Tänzer*innen des Bayerischen Junior Balletts München.

Happy Birthday

Ein Gespräch mit Alex Ursuliak, der 85 wird

Er ist aktiv und unermüdlich. Alex Ursuliak feierte am 1. Oktober seinen 85. Geburtstag. Aus diesem Anlass weisen wir heute auf ein Gespräch hin, dass er im April mit Andrea Amort über seinen Werdegang, die Ukraine, Kyjiw, Kanada, Edmonton, die ukrainische Sprache und die Sprache des Balletts führte.

St. Pölten, 01/10/2022

Ein Nachmittag in St. Pölten, nahe Wien. Seit Wochen herrscht Krieg in der Ukraine. Auch Alex Ursuliak, der im kanadischen Edmonton geborene, international renommierte Ballett-Pädagoge, sorgt sich um Familienmitglieder und Freunde im Heimatland seiner Eltern. Sie kamen aus der Ukraine, aus Tscherniwzi (Czernowitz).

In kleiner Runde sitzen wir um den reich gedeckten Tisch, es gibt roten Kaviar auf einer Wasserschale. Gekochte Eier werden zerdrückt, mit dem Kaviar vermischt, Rahm, Weißbrot dazu. Ein russisches Gericht.


Alex Ursuliak: Als ich nach Kyjiw kam (Kyjiw ist die ukrainische Schreibweise) war ich zweisprachig. Zu Hause sprach ich Ukrainisch, aber draußen Englisch. Die Stalin-Zeit hatte die Ukraine russifiziert, Ukrainisch galt als Bauernsprache. Die Elite sprach nur Russisch. Ich kannte kein Russisch. Ich kam ins Nationaltheater, um Ballett zu trainieren, zu proben, Repertoire zu lernen. Sie haben mich dort wegen meiner Sprache „Sarasa“ genannt (Schreibweise nach der Aussprache), auf Deutsch die Plage. Unsere Sprache galt nichts. Schon Peter I. hatte die ukrainische Sprache verboten. Es gab sehr viele Schriftsteller, die in den Gulags waren, weil sie die ukrainische Sprache verwendet hatten. Ich war mit einem Autor bekannt, der ein umfangreiches Werk über die ukrainische Theatergeschichte herausgebracht hat. Mir ist damals aufgefallen, dass er sich seitenlang auf sehr unterwürfige Weise bei den sowjetischen Herrschenden bedankt hat, bedanken musste. Was ich damit sagen will: Die Unterdrückung des ukrainischen Volkes war in gewisser Weise immer da.

1991 war die Ukraine mit multi-ethnischer Vergangenheit und unterschiedlicher „Besetzung“ nach dem Zerfall der Sowjetunion ein selbständiger und souveräner Staat geworden. Mit dem Budapester Memorandum 1994 garantierten Russland, die USA und Großbritannien als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Achtung der vertraglich gesicherten Grenzen. 2014 annektierte Vladimir Putin die Krim, seither gab es in den Gebieten des Donbas kriegsähnliche Verhältnisse. Am 24. Februar hat Putin den Staat Ukraine überfallen. Der Krieg dauert an, Verhandlungen werden geführt. Mittlerweile haben drei Millionen Flüchtende das 44 Millionen zählende, zweitgrößte Land Europas verlassen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock rechnet in der EU mit bis zu acht Millionen Schutzsuchenden.

Alex Ursuliak: Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg Kaiser Franz Josef gedient. Nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie ist er mit seiner Familie nach Kanada ausgewandert. Ich bin in Edmonton geboren. Papa hatte sich in Kanada um ein „Homestead“ beworben. Er bekam einen Sack Mehl, etwas Zucker, Salz, eine Schaufel und eine Axt sowie einen Plan mit Anweisungen um sein Land zu finden. Unsere Parzelle war mehr als 100 Kilometer weg von Edmonton. Die Familie kam im Wald an. Sonst war dort nichts. Vater machte ein Erdloch und legte Holz darüber, das war 1924 und die erste Unterkunft. Das erste Zuhause war ein umgebauter Hühnerstall. Mein Vater lernte rasch Englisch, er war aber kein Bauer, baute schließlich Häuser.

Andrea Amort: Also war diese Resilienz nicht nur Deinem Vater zu eigen, sie scheint ein Wesensmerkmal der ukrainischen Bevölkerung zu sein, deren unglaublichen Widerstandswillen wir täglich auf den Bildern von den Kriegsschauplätzen sehen, etwa auch die friedlichen Demonstrationen in von Russen kontrollierten Orten.

Alex Ursuliak: Wenn Mister Putin glaubt, er kann sich mit der Ukraine anlegen, da irrt er sich.

AA: Wie war Dein Start in den Tanz?

Alex Ursuliak: Ich war in einem Verein und lernte tanzen, singen und Mandoline spielen. In den 1950er-Jahren gab es in Kanada eine riesige ukrainische Diaspora. Kein Wunder, dass mein Lehrer aus Kyjiw stammte. Er hieß Fred Seychuk und – ich war ungefähr zehn - zeigte mir „etwas Neues“.
Etliche Folkloretänze, für die die Ukraine berühmt ist, kannte ich schon, jetzt kam das Ballett. Und bald ein Schicksalswink: Die ukrainische Delegation, die 1945 zur Gründung der Vereinten Nationen in die USA flog, musste in Edmonton Halt machen, um das Flugzeug aufzutanken. Mein Vater, der im Empfangskommittee war, traf auf den ukrainischen Kulturminister. Dieser bot an, bei etwaigen Wünschen der Kinder in der Ukraine studieren zu wollen, behilflich zu sein. In den 1950ern gab es insgesamt einen intensiven Studentenaustausch zwischen der Ukraine und Kanada, vor allem was die Agrarwissenschaften betraf.


Alex Ursuliak geht für vier Jahre nach Kyjiw und macht eine Tänzer- und Ballettpädagogik-Ausbildung. Er kommt ans Nationaltheater, tut sich aber schwer wegen der Sprache. Als Gaststudierender aus dem Westen pilgerte er zum KGB und bat um Vermittlung, da man am Theater mit ihm, der Ukrainisch sprach, nicht redete. Die kommunikative Ebene verbesserte sich daraufhin.

Alex Ursuliak: Ich hatte tolle Lehrer, darunter Evhen Zaitsev für Charaktertanz. Ich besuchte die Damenklassen bei Natalia V. Verekundova, einer Vaganova-Schülerin. Das war großartig. Der Ballettpädagogik-Unterricht bei Robert Kliavin, der noch aktiver Solist war, hat mich sehr geprägt. Er war immer deutlich, klar und methodisch. Wenn Du es nicht verstehst, frag sofort! Ballett ist nicht kompliziert, du hast nur zwei Arme und zwei Beine, es gibt physikalische Gesetze, du musst vertikal stehen, also benutze deine Muskeln so, jetzt lerne wie und wohin kann ich meine Beine bewegen, in welche Richtungen par terre und dann gehe höher, du kannst die Beine von vorne zur Seite nehmen, von der Seite nach hinten und umgekehrt, und nicht zu vergessen die Arme, sie helfen dir zu balancieren, aber sie sind auch ausssagekräftig. Du must lernen zu hören, ob deine Bewegungen mit der Musik und ihrem Charakter in Einklang sind. Wenn du deine Vertikalität in dir hast, dann kannst du mit anderen Bewegungen in die Breite gehen.

Alex Ursuliak arbeitet derzeit via Zoom mit einer ehemaligen Schülerin aus seiner Stuttgarter Zeit als Direktor der John Cranko-Schule. Sie tanzt nicht mehr, hat in Australien ein Studio gegründet.

Alex Ursuliak: Ich erkläre ihr Ballett, wie es Robert mir beigebracht hat. Das Rollen-Coaching ist natürlich dann noch etwas ganz Anderes. Da geht es um Bücher lesen und die Fragen: Wie fängt das Alles an? Wer bist Du? Was werden deine Reaktionen sein? Ja, die Solovariationen sind wichtig, sie dauern aber vielleicht eine Minute zehn, also was machst du während der übrigen Zeit, die du auf der Bühne bist. Drehen und Springen sind Mittel zum Zweck, aber längst nicht Alles. Zuerst muss ich wissen, wer ich bin. Und Theater meint immer Dialog, auf der Bühne, mit dem Publikum. Worum geht es in „Romeo und Julia“: Ein einfaches Mädchen versucht der ganzen Welt zu zeigen, was Liebe ohne Bedingung ist. Wir vergessen immer, warum wir das Alles tun (auf der Bühne). Das Ziel ist zu erzählen.

AA: Viele Tänzer*innen sind mittlerweile aus der Ukraine geflohen, viele Tänzer sind beim Militär. Artem Datshishin, ein sehr bekannter Solotänzer aus Kyjiw, ist seinen Kriegsverletzungen erlegen. Ist das zu verstehen?

Alex Ursuliak: Es geht nicht um mein Leben, es geht um mein Land und meine Freiheit, die Umstände, unter denen ich leben soll, muss ich vor jemandem knien, muss ich einer Parteilinie folgen... Lies den Zweizeiler in der ukrainischen Nationalhymne, da heißt es: "Seele und Leib werden wir für unsere Freiheit opfern, und wir werden zeigen, Brüder, dass wir zum Kosakengeschlecht gehören."
In Wien wurde 2003 übrigens ein Kosaken-Denkmal errichtet, das an die Kraft der ukrainischen Kosaken-Armee bei der Türkenbelagerung von 1683 erinnert.

Wir sprechen über den berühmten ukrainischen Lyriker und Maler Taras Schewtschenko, über seinen testamentarisch verfügten, hier sinngemäß zitierten Satz "Lernen Sie Sprachen von Anderen und schämen Sie sich niemals für ihre eigene Sprache". Es geht um kulturellen Reichtum und Vielfalt und die Möglichkeit daran Teil zu haben. Und: Wir sind wieder beim Essen gelandet, bei ukrainischen Spezialitäten wie Holubtsi (Krautwickel), Varreniki (Teigtaschen) und Hretchka (Buchweizen) „meist mit Kotelette serviert“, wie Alex Ursuliak schmunzelnd weiß: Aber wir essen auch gerne italienisch, russisch, trinken französischen Wein.

 

 

Alex Ursuliak, geboren in Edmonton (Kanada), tanzte nach seiner Ausbildung in Kyjiw beim National Ballet of Canada. Es folgten leitende Positionen beim London Festival Ballet, Ballett der Wiener Staatsoper und an der Schule (1966 bis 1973), Stuttgarter Ballett und an der Schule (1973 bis 1997). In dieser Zeit förderte er junge Choreograf*innen wie Renato Zanella, Marco Santi, Daniela Kurz, Christian Spuck u. a. Von 2000 bis 2002 führte er die Schweizerische Ballettberufsschule in Zürich, die unter seiner Leitung der Hochschule für Musik und Theater angegliedert wurde. Von 2008 bis 2011 bildete Ursuliak Ballettpädagog*innen an der Hochschule für Musik und Theater in München aus. Außerdem ist er Gastdozent an vielen großen Ensembles und Ballettakademien, Juror bei Wettbewerben u. a. in Kyjiw und Moskau.

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