"Liliom" von John Neumeier. Tanz: Ida Praetorius – Edvin Revazov
"Liliom" von John Neumeier. Tanz: Ida Praetorius – Edvin Revazov

Ein Gefühl wie Liebe

Wiederaufnahme von John Neumeiers Ballettlegende „Liliom“

Standing Ovations für das fantastische Zusammenspiel aller künstlerischen Ebenen beim Hamburg Ballett

Hamburg, 28/02/2022
Er ist ein schöner Mann, dieser Liliom, ein Mann mit Charisma und Sexappeal, dem die Frauenherzen zufliegen. Und derer sind viele, so wie Hamburgs Ballettchef John Neumeier es in seiner Ballettlegende „Liliom“ - frei nach dem gleichnamigen Theaterstück von Franz Molnár, uraufgeführt 1909 in Budapest, inszeniert.

Bei „Liliom“ ist eine Hybrid-Form zwischen Ballett, Revue und Tanztheater entstanden, die mit tempo- und variantenreichen Ensemble-Tableaus und fein nuancierten Solo-Szenen beeindruckt. Es wird die Geschichte des Jahrmarktausrufers und Frauenhelden Liliom erzählt: von seinem schillernden Jahrmarktsleben über sein Versagen als Partner seiner schwangeren Freundin Julie - von einem Charakter, der auch vor Gewaltausbrüchen nicht Halt macht und seine Freundin aus Frust schlägt - bis hin zu seinem jenseitigen Dasein im Purgatorium, das ihn zur Reue bewegen soll.

Für diese auch musikalisch groß angelegte Crossover-Produktion, die hier in der Wiederaufnahme der Premiere von 2011 präsentiert wurde, konnte John Neumeier den bekannten französischen Filmkomponisten Michel Legrand gewinnen. Legrand konzipierte und komponierte im Auftrag des Hamburg Balletts eine gekonnt zwischen zwei Genres changierende Musik: eine komplexe Komposition von neo-klassisch sinfonischem Sound gemischt mit punktgenau serviertem Bigband-Jazz. Das Mit- und zum Teil Gegeneinander der auf der Bühne platzierten NDR-Bigband mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg wurde unter der Leitung von Nathan Brock zu einem akustischen Genuss. Zusammen mit der Choreografie John Neumeiers ein äußerst gut funktionierendes Gesamtspektakel!

Und ein gewisses Maß an Spektakel muss schon sein, wenn ein Stück die Menschen im Jahrmarktsmilieu thematisiert. Liliom, von der Karusselbesitzerin Frau Muskat angestellt und gleichzeitig ihr Liebhaber, bestimmt mit seiner Verführungskraft die Atmosphäre auf dem Rummelplatz und zieht die Aufmerksamkeit der Leute, vor allem der Frauen auf sich. Sie sind in der abwechslungsreich choreografierten Jahrmarktszene des ersten Bildes, das den Gruppentänzer*innen des Hamburg Balletts als Besucher*innen eine schöne, lange Tanzszene widmet, geradezu verrückt nach ihm! Eine nach der anderen möchte von Liliom gesehen, berührt oder gar geküsst werden, womit John Neumeier einen ähnlichen Hype um den Helden, wie bei einem Rockkonzert inszeniert. Er verlegt die Handlung in das von der Rezession geplagte Amerika der 30er Jahre. Unter dem Druck grassierender Armut flüchten sich die Menschen, die es sich noch leisten können, für eine kurzen Moment in die Fantasiewelt des Jahrmarkts und in die Vergnügungen.

Ein jazziges Thema porträtiert die leidenschaftliche Verbindung zwischen Liliom und Frau Muskat, in der zweiten Besetzung eindrücklich und souverän-lasziv getanzt von Patricia Friza und Edvin Revazov, der den Liliom elegant und verführerisch zugleich gibt. Die Beziehung zur Kellnerin Julie hingegen entwickelt sich langsam und zögerlich: eine Ahnung von echter Liebe liegt im Raum. Julie, getanzt von der zarten neuen 1. Solistin Ida Praetorius, gewinnt erst nach und nach an Kontur. Schüchtern, bisweilen sogar blass wirkt ihre Figur neben dem schillernden Liliom, dem zweifellos die allermeisten Szenen und damit die größte Aufmerksamkeit gehört.

Edvin Revazov tanzt geschmeidig, elegant und gibt der eigentlich grobschlächtigen Figur mit ihren Ausrastern auch feine, nachdenkliche Züge. Als er nach vergeblicher Arbeitssuche so wie die anderen Männer (grandios choreografierte Tanzszene fürs Ensemble), frustriert nach Hause kommt, wird er gewalttätig und schlägt seine Freundin, die ihm gerade ihre Schwangerschaft offenbart hat. Der allgegenwärtige Kampf um die Existenz (Liliom hat wegen Julie seinen Job bei Frau Muskat verloren) führt bei ihm zu Frust und Gewalt. Die Liebe zwischen Julie und Liliom kommt trotz langer Duett-Szenen - nicht wirklich zum Tragen, das hat Neumeier geschickt inszeniert: eine Ambivalenz, die auch in der Musik erlebbar wird: Dur wird zu Moll, die Atmosphäre verdüstert sich zunehmens. Da entpuppt sich das Ballett als Tanztheater mit vielen nachdenklich stimmenden Momenten.

Allerdings ginge eine tanztheatralische Übersetzung dieses Stoffes in der Aussage weiter,
näher heran an den Schmerz der Frau. Lilioms Schläge auf Julie werden nur einmal exemplarisch und ästhetisch-symbolisch dargestellt. Dass dies wie eine Verharmlosung der Thematik häuslicher Gewalt nachwirkt, müsste nicht nur den Zuschauerinnen unangenehm auffallen, ist doch auch heute noch Gewalt gegen Frauen bis hin zu Mord im engsten Umfeld vielerorts traurige Wirklichkeit. - Wo schlägt die Liebe der Frauen in Masochismus um, und wo bleibt die Selbstbeherrschung der Männer? - Diesen Fragen geht die Inszenierung John Neumeiers nicht nach, sie erzählt die Handlung so, dass es dem Zuschauer schwer fällt, Liliom zu verurteilen und man Edvin Revasov immer wieder gerne in seiner sinnlich-jovialen Präsenz folgt.

Poetische Momente entstehen, wenn Liliom vom Mann mit den Luftballons - diesmal alle in weiß - hinauf in den Himmel geleitet wird, wo sich nach seinem verunglückten Raubüberfall und Selbstmord seine Existenz im Jenseits fortsetzt. Er schwebt gen Himmel, wird vom Gericht verurteilt, kehrt nach 16 Jahren Fegefeuer für einen Tag auf die Erde zurück und darf - als Bettler verkleidet - seine ihm auch nachtodlich treue Freundin Julie und das gemeinsame Kind aufsuchen. Bei Molnár ein Mädchen, bei Neumeier ein Junge - wunderbar frisch und dynamisch getanzt von Francesco Cortese - wird Liliom im Eifer des Gesprächs rückfällig und schlägt sogar sein Kind! Dass es Molnár ausgerechnet mit der Erkenntnis, dass Schläge nicht schmerzen (können!) gelingt, am Ende seine Figuren zu versöhnen, bleibt ein verstörender Schluss. Bei Neumeier endet es märchenhaft mit einem zärtlichen Kuss, bei Molnár mit dem Rausschmiss von Liliom durch Julie.
Männer haben es eben schwer, wie Herbert Grönemeier in seinem Song so trefflich ironisch formuliert: sie sind ja so verletzlich und gleichzeitig auf dieser Welt einfach unersetzlich. Sie sind ja einsame Streiter, allzeit bereit und bestechen durch ihre Lässigkeit…

Was neben dem nachdenklich stimmenden Thema des Abends bleibt, ist eine grandiose künstlerische Darbietung aller Beteiligten: von der Musik über die feinfühlige und routinierte Choreografie bis zu deren leidenschaftlich getanzter Übersetzung durch das gesamte Ensemble. Trotz aller sonstigen hanseatischen Zurückhaltung steht das gesamte Parkett auf zu verdienten Standing Ovations für ein hoch professionelles, fantastisches Zusammenspiel aller künstlerischen Ebenen an diesem Abend, das seinesgleichen sucht.

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