Marco Goecke: "Wir sagen uns Dunkles" (Louis Steinmetz)

"Wir sagen uns Dunkles" von Marco Goecke. Tanz: Louis Steinmetz

Düstere Tiefen

Das Staatstheater Hannover verführt mit Choreografien von Jiří Kylián, Sol León & Paul Lightfoot und Marco Goecke

"Wir sagen uns Dunkles" - Goeckes Stücktitel trägt als Motto den Abend, der durchgedreht, windschief und abgründig daher kommt.

Hannover, 14/02/2022

Das Dunkle fasziniert von jeher den Künstler, die Künstlerin. Sie beschäftigen sich mit dieser vom Menschen gern verdrängten Seite des Lebens, da sie nicht selten auch selbst von Abgründen geplagt werden, die sie dann in ihre Produktionen mit einfließen lassen.
Inspiriert von dem Briefwechsel zwischen der österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann und Paul Celan entwirft Marco Goecke ein Programm, das sich genau diesem Aspekt der menschlichen Existenz widmet. Das Zitat aus einem Gedicht von Paul Celan: „wir sehen uns an, / wir sagen uns Dunkles,“ ist Titel gebend und zugleich Leitfaden für den dreiteiligen Ballettabend am Staatstheater Hannover mit Choreografien von Jiří Kylián, Sol León & Paul Lightfoot und Marco Goecke. Es geht in allen drei Choreografien um die verletzliche Seite im Inneren des Menschen, die von den vier Choreograf*innen unterschiedlich reflektiert und dargestellt wird.

Den Anfang macht das – ursprünglich für das Nederlands Dans Theater 2 2008 choreografierte – „Gods and Dogs“ von Altmeister Jiří Kylián, der mit seiner eleganten und feinsinnigen Art zu choreografieren ganze Generationen in Begeisterung versetzt hat. Er thematisiert in seinem Ballett den Grenzbereich zwischen Krankheit und Gesundheit, Normalität und Wahnsinn, wobei er inhaltlich kaum mehr als Andeutungen macht. Selbst der Titel ist als Andeutung zu verstehen und lässt eher seine Lust am Wortspiel und an einer gewissen Offenheit in der Interpretation erkennen. Zu Beginn steht der Tänzer Maurus Gauthier da wie ein griechischer Apoll, während die Bühne sich langsam mit sehr dynamisch tanzenden Figuren füllt, als plötzlich hinter seinem Rücken eine Tänzerin auftaucht, ihm sinnbildlich „aus der Rippe fällt“. Daraufhin nimmt die mit vielen überraschenden Momenten und vor allem interessantem und virtuosem Bewegungsvokabular gespickte Choreografie ihren Lauf. Sie zieht nach und nach in ihren Bann, nicht zuletzt auch durch die Verbindung mit einer interessanten Musik-Collage: der 1. und 2. Satz aus Beethovens Streichquartett Nr.1 wurde als Auftragswerk von Dirk Haubrich strukturell verwoben mit computergenerierten, ebenso sphärischen wie perkussiven Klängen. Die Choreografie wirkt erfrischend jung: mit vielen zeitgenössischen Elementen, Tempo und Bewegungswitz bis hin zu regelrecht durchgedrehten Passagen, die durch einen nach und nach freigelegten Bühnenhintergrund mit einem schimmernden und zum Teil verstörend schwingenden Vorhang aus Metallketten atmosphärisch unterstützt wird. In einer Videoprojektion läuft ein imaginärer riesiger Hund – quasi wie ein Alptraum – über der Bühne auf den Zuschauer zu.

Die Paare tanzen bei Kylián trotz allem Lebenskampfes immer einander zugewandt, sich gegenseitig unterstützend. Dieser humane Aspekt ist in vielen Kylián-Choreografien zu erleben und hat trotz thematischer Reibung etwas Tröstliches. Sehr harmonisch tanzt Maurus Gauthier mit der eleganten Ana Paula Camargo, blitzschnell und durchgedreht: Giada Zanotti mit Nikita Zdravkovic.

Wenn am Ende dieses halbstündigen Tanzfeuerwerks der Tänzer des Anfangs vor dem vibrierenden Goldvorhang steht und zur Silhouette wird, auf deren Körper sich – unter den Klängen einer tiefen Basstrommel – in Lichtreflexen seine inneren Bewegungen weiter spiegeln und das Licht langsam ausgeht, dann ist das ein beeindruckender Schlusspunkt. Ein Bild, das sich tief einprägt und noch lange nachwirkt. „Von Herzen — Möge es wieder — Zu Herzen gehn!“ hatte schon Beethoven über die Partitur seiner Missa Solemnis geschrieben. Dies ist hier ganz bestimmt gelungen. Eine Kerze, die in einem Glas am Bühnenrand die ganze Zeit brennt, mag eine Metapher dafür sein, dass das Licht auch im schlimmsten Dunkel noch existiert …

Die Choreografie des Mittelteils „Skew-Whiff“, zu Deutsch: windschief, von Sol León und Paul Lightfoot – beide ehemalige Tänzer bei Kylián und seine Nachfolger in der Leitung des Nederlands Dans Theaters – nähert sich der Thematik des Verrücktseins auf humorvolle Art. In einem schier unglaublichen Akt der tänzerisch-physischen Verausgabung tanzen sich drei Männer und eine Frau durch die skurrilsten und verrücktesten (Lebens-)Situationen hindurch, angetrieben von der unaufhaltsamen Dynamik von Gioachino Rossinis Ouverture zur Oper „Die diebische Elster“. León und Lightfoot, die vor 25 Jahren mit dieser Choreografie beim NDT ihren eigenen Stil etabliert haben, treiben die Tänzer*innen des Staatsballetts zu Höchstleistungen. Bei allem Bewegungswitz, gepaart mit viel Tanztechnik und modernem Groove, wirkt die Choreografie allerdings etwas aufgesetzt und manchmal zu nah an der Musik choreografiert, indem sie fast jede Note in Tanz übersetzt. Die vier Tänzer*innen Giada Zanotti, Conal Francis-Martin, Maurus Gauthier und Louis Steinmetz bewältigen diese tänzerische „Tour de Force“ allerdings so bravourös, dass sie am Ende mit Applaus überschüttet werden.

Der Schluss des Abends wird dann von Marco Goecke mit seiner – auch für das NDT 2017 kreierten und hier wiederaufgenommenen – Choreografie „Wir sagen uns Dunkles“ bestritten. In dem etwa halbstündigen Werk wird im Wechsel zur Musik der Britpop-Band Placebo und zu live von Musiker*innen des Niedersächsischen Staatsorchesters gespielten Ausschnitten aus Alfred Schnittkes Klavierquintett Nr. 2, sowie dem Notturno op. 148 von Franz Schubert getanzt. Dass die hoch anspruchsvolle und wie hier gekonnt dargebotene Musik live stattfindet, muss sich der Zuschauer nach der lauten Rockmusik erst einmal bewusst machen. Aber diese Brüche liebt der Choreograf, ja sie können als sein Markenzeichen begriffen werden. Die Brüche – auch im übertragenen Sinn im Leben des Menschen – offenbaren einen Abgrund, in den hinunter zu steigen, Marco Goeckes inneres Movens ist. Er nimmt die Zuschauer mit in ein schaurig-schönes Szenario der menschlichen Verletzlichkeit. Seine Tanzsprache ist geprägt von blitzschnellen Armbewegungen aller Couleurs, die von den Tänzer*innen des Staatsballetts in einer selten dargebotenen Perfektion getanzt werden. Weiträumige Soli, meist für männliche Tänzer, die mit raumgreifenden Schritten und Sprüngen den Bühnenraum erobern, wechseln ab mit sperrigen Duetten, in denen wohl die Sehnsucht nach Begegnung, nie aber deren Erfüllung gezeigt wird.

Es ist eine enigmatische, abgründige, eckige Tanzform, die die Zuschauenden in eine Unruhe versetzt, die niemals aufgelöst wird. Da sind körperliche Gesten erotischer Art – wie zum Beispiel ein Kuss zwischen zwei Männern mit weit aufgerissenem Mund oder die immer wiederkehrende Geste der Selbstbefriedigung – die diesen Tanz ergänzen, der ansonsten wie eine Verengung des Blicks, eine Reduzierung der Tanzmöglichkeiten wirkt. Wenig Beinarbeit, kaum vorhandener Bewegungsfluss, dafür blitzschnelle, hochenergetische Verausgabung kennzeichnet die Choreografien von Marco Goecke, frustrierend und faszinierend zugleich. Ein eindrückliches Männersolo – virtuos getanzt von Louis Steinmetz – beendet dann auch den Abend.

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