Decolonization praxis and the art of talking disability

Interview-Reihe zum Förderprogramm DIS-TANZ-SOLO: Anajara Laisa Amarante, Performance-Künstlerin und Choreografin

Anajara Laisa Amarante setzt sich in ihrer Arbeit mit dem Aspekt der Intersektionalität an der Schnittstelle von Behinderung und Kolonialismus auseinander – zentrale Bestandteile ihrer eigenen Biografie und ihres Schaffens.

Berlin, 13/01/2022

Im vergangenen, von der Corona-Pandemie geplagten Theaterjahr unterstützte das Förderprogramm DIS-TANZ-SOLO vom Dachverband Tanz Deutschland e. V. als Teil des HILFSPROGRAMMS TANZ / NEUSTART KULTUR soloselbständige Tanzschaffende. In einer Interviewreihe befragt tanznetz.de einige Künstler*innen, deren künstlerische Projekte im Rahmen dieses Programms gefördert wurden, zu ihren Erfahrungen mit DIS-TANZ-SOLO. Wie bewerten sie den Nutzen und die Nachhaltigkeit der Förderung? Und welchen Stellenwert nimmt diese für das künstlerische Schaffen in Zeiten der Pandemie ein?

Anajara, was war Deine Idee für DIS-TANZ-SOLO?

Wie wiederholt sich die Geschichte durch neue Praxis der Kolonisierung, wie können wir den Europäern helfen, ihren Geist zu entkolonialisieren? Was ist mit den Behinderten, den chronisch Kranken? Haben diese Künstler*innen eine Chance hier? Mit diesem Projekt wollte ich – konzeptionell – an der Schnittstelle / Intersektionalität zwischen Behinderung und Kolonialismus arbeiten, und wie unterschiedlich die Möglichkeiten einer behinderten / chronisch kranken Person je nach Herkunft / Heimat aussehen. Ich, als jemand aus dem globalen Süden, nehme wahr, dass zum Beispiel fast die gesamte (wenige) Literatur, die es über diese Art der Intersektionalität an Themen gibt, von Autoren aus dem globalen Norden stammt – in der darstellenden Kunst ist das ganz genauso. Aber auch subjektiv wollte ich zeigen, dass der Kolonialismus nie aufgehört hat, wenn wir ihn als eine Kraft ansehen, die nicht nur die Lebenschancen eines Menschen beeinflusst, sondern als eine subjektive Methode, unsere Sicht der Welt zu beeinflussen. Wenn es beeinflusst, wie wir die Welt sehen, beeinflusst es unsere Körper – in diesem Projekt unsere tanzenden Körper. Und ein kranker Körper aus Lateinamerika hat andere Möglichkeiten – und Krankheitswahrnehmungen – als ein europäischer.

Warum hast Du dieses Förderprogramm gewählt?

Wie bei vielen anderen Künstler*innen aus der freien Szene besteht ein Großteil meiner Arbeit aus der Beantragung von Fördermitteln. Dieses Programm schien einen unkomplizierten Bewerbungsprozess zu haben, zugänglich für mich und die begrenzte Zeit zu sein, die ich als chronisch Kranke habe.

Was hat die Förderung speziell in den hochpandemischen Zeiten für Dich bedeutet? Finanziell und inhaltlich?

Es bedeutete mir sehr viel, dass man mir vertrauen konnte, mit Themen zu arbeiten, die mich so sehr interessieren, da sie mein Leben und das Leben vieler anderer beeinflussen. Es ist auch sehr wichtig, die Möglichkeit zu haben, zu den Themen Kolonialismus und Behinderung aufzutreten, genau jetzt, da diese Pandemie je nach Teil der Welt – den wir betrachten – so unterschiedliche Ergebnisse erzielt hatte, so wie auch unterschiedliche politische Ereignisse zeigte. Als chronisch kranker Brasilianerin hätte dies kein geeigneterer Zeitpunkt sein können, um diese Bereiche zu thematisieren. Finanziell hat es mir geholfen, meine Selbständigkeit zu behalten, unabhängig von Sozialhilfe zu sein, da ich, wie bereits erwähnt, viel arbeite, aber nicht in einem Nichtbehindertenrhythmus.

Stehen Antragsaufwand und Nutzen im richtigen Verhältnis?

Die Förderung soll nur meine eigene Arbeit decken – das heißt, da ich mich entschieden habe, mit anderen Performance-Künstler*innen / Tänzer*innen zusammenzuarbeiten, musste ich die Mehrkosten selbst tragen, da es sich auch um eine Soloförderung handelt. Ich denke, das Programm würde sehr davon profitieren, Choreograf*innen umfassender zu unterstützen – wenn nicht mit mehr Geld, dann mit Art der Hilfestellung bei der Produktion und / oder kuratorischen Arbeit.

War der Förderzeitraum ausreichend, um Dein Projekt abzuschließen bzw. zu wirklicher Vertiefung zu gelangen?

Nein, war es nicht, aber ich muss zugeben, dass dies in meiner eigenen Verantwortung liegt – ich habe nur 3 Monate Förderung beantragt. Mir war nicht bewusst, wie schwierig es z. B. sein würde, in Pandemiezeiten ein barrierefreies (oder zumindest behindertengerechtes / disabled friendly) Theater zu finden, da bereits verschobene Produktionen immer Vorrang hatten und die meisten Orte sowieso nicht zugänglich sind. Ein anderes Beispiel: Es war schwierig, lateinamerikanische behinderte Darsteller zu finden, auch wenn ich den Geltungsbereich auf den globalen Süden ausweitete. Was den Inhalt angeht, denke ich auch, dass mir die Zeit gefehlt hat, das Konzept des Kolonialismus im Inneren des Stücks richtig zu vertiefen. Dies sind jedoch, wie bereits erwähnt, Dinge, die ich während des Prozesses entdeckt habe und für die ich verantwortlich bin.

Wie nachhaltig findest Du Dein Projekt? Kannst Du jetzt noch davon profitieren?

Ich plane mich um neue Fördermittel zu bewerben, um das Stück zu wiederholen und damit an den Punkten zu arbeiten, an denen meiner Meinung nach die künstlerische Qualität gesteigert werden sollte. Ich beabsichtige dieses Stück viele Male zu wiederholen. Außerdem war es ein so komplexes Werk, dass ich meine Arbeitsweise neu formulieren musste, was mir jetzt hilft, mich besser zu konzentrieren und meine eigenen Arbeitsgrenzen zu verstehen.

Würdest Du anderen Künstler*innen oder Tanzschaffenden eine Bewerbung bei dieser Förderung empfehlen?

Ja, würde ich.

Was bedeutet der Begriff „Distanz“ – DIS-TANZ – für Dich?

Ein Tanz, der aus der Ferne ausgeführt werden kann, oder getrennt, oder – was mir häufiger in den Sinn kommt – das Wort Distanz selbst. Ein Wortspiel.

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