Ivan Alboresi "Verklärte Nacht": v. l. n. r. Laura Volpe, Jett Shoesmith

"Verklärte Nacht" von Ivan Alboresi. Tanz: Laura Volpe, Jett Shoesmith

Tod und Verklärung

Ivan Alboresis neueste Kreationen „Verklärte Nacht“ und „Carmen“ am Theater Nordhausen

Die je sechs Tänzerinnen und Tänzer umfassende Ballett-Kompanie am Fuße des Harzes entwickelt sich auch im sechsten Jahr von Ballettchef Alboresi aufregend weiter.

Nordhausen, 14/12/2021
Sachlich, gelassen und etwas kühl tanzen Otylia Gony und Thibaut Lucas Nury vor kaltem, blauem Hintergrund ihren Pas de deux. Das Paar absolviert die komplizierten und dennoch flüssigen Bewegungen mit hoher Konzentration. Doch dann kommt ein Herr mit bloßem Oberkörper hinzu und beginnt Otylia Gony heftig zu umwerben. Alfonso López González umschmeichelt die Frau mit großer Sinnlichkeit, das Licht wird rötlich. Mit der Musik heizt sich auch der Tanz auf – und in dieser Glut lösen sich die Glieder der Frau, selbst wenn sie die Augen noch nicht von ihrem früheren Partner lösen kann. Auch dieser ist fasziniert von der neuen Erscheinung und lässt sich schließlich einbeziehen in eine harmonische, spielerische und körperlichere Bewegungsqualität zu dritt.

Zur Auffüllung des Abends mit der Uraufführung des Operneinakters „Kain und Abel“ am 26. November im Theater Nordhausen hat Ballettchef Ivan Alboresi Arnold Schönbergs spätromantisches Streichersextett „Verklärte Nacht“ choreografiert. Man kann davon ausgehen, dass die meisten Menschen, die diese Musik hören, Richard Dehmels Gedicht nicht vorher gelesen haben. Alboresi hat es zwar zur Grundlage seiner halbstündigen Choreografie gemacht, bleibt mit den Bühnenaktionen aber so vage, dass dort reine Emotion sichtbar wird.

Zunächst liegen alle zwölf Tänzer*innen auf dem Boden, während Stoffbahnen in den Himmel steigen, bis sie schließlich das Bühnenbild (Birte Wallbaum) hergestellt haben, in dem nun nur Lichtstimmungen vor der Operafolie das Bild beherrschen werden (und jede Menge Bühnennebel). In einer Bewegung nach rechts strebt die Menschenmasse ins Aufrechte. Jeder spricht in seiner Muttersprache eine Dehmel-Zeile, wovon natürlich nichts zu verstehen ist, da sie keine geübten Sprecher sind. Schließlich löst sich ein Paar aus der Menge und bahnt sich seinen Weg, der in jenen seltsam empfindungslos-technischen Pas de deux mündet. Dennoch ist es faszinierend, der kleinen Otylia Gony und dem großen Thibaut Lucas Nury zuzusehen, wie organisch und zwingend sie ihre Beziehung entwickeln.

Noch ist das Licht kalt, wie ja auch im Gedicht vom kalten Hain die Rede ist. Die Kälte des Weltalls, die funkelnden Sterne verweisen aber auch auf das Universelle allen Lebens, über Besitzansprüche hinaus. Alle tragen blaue Anzüge, die Herren darunter nackten Oberkörper, die Damen fleischfarbenen BH (Kostüme: Anja Schulz-Hentrich). Im Mittelteil gehört die Bühne nur den drei Protagonist*innen. In der getanzten Begegnung mit den Dritten findet die Frau ebenso Erfüllung wie ihr neuer Partner. Zu Schönbergs finaler Verklärung verschwindet der Faun wieder und die Truppe tritt auf, bildet eine Diagonale und webt dann neue Tanzmuster. Stolz und erhaben schwingen sich alle durch die nun wieder kalte Luft. Das alte Paar aber schreitet versöhnt nach hinten ins Licht. Alboresi hat damit Schönbergs Musik zu optimalem Erleben geöffnet, ihre Sensualität in Bewegung umgesetzt und zu einem beglückenden Tanzstück umgeschmolzen. Schade, dass es nur vier Mal aufgeführt werden soll...

Nur vier Wochen zuvor, am 29. Oktober, hatte Ivan Alboresi sein abendfüllendes Ballett „Carmen“ zur Premiere gebracht (siehe dazu auch unseren Bericht vom 02. November). Zur Grundlage nahm er Rodion Schtschedrins „Carmen-Suite“ und die beiden Streicherstücke „Cruel Sister“ (2004) und „Fuel“ (2007) der US-amerikanischen Komponistin Julia Wolfe.

Die Bühne wird beherrscht von zwei riesigen Stierhörnern, die Symbolik von Kraft, Sexualität und Machismo wird auch die Handlung beherrschen. Don José sitzt brütend im Hintergrund, umkreist von einem Dämon, den Jett Shoesmith mit Bravour erfüllt – immer wieder wird er die Figuren des Dramas umkreisen und zu Handlungen zwingen, die sie lieber nicht begangen hätten. Und er sorgt, zusammen mit der Musik, für die hohe Spannung dieses Abends. Seine technoartigen Bewegungen sind ruckartig und kantig, während Alfonso López Gonzáles vor allem mit mächtigen, weit ausgreifenden Armbewegungen den Raum zu beherrschen versucht. Dass dieser Mann Don José von López Gonzáles so sinnlich und glutvoll getanzt wird, lässt seine Fallhöhe umso tragischer erscheinen. Erika Cucumazzos Carmen ist ein von unbedingtem Willen erfülltes Individuum, das trotzig bald alles an sich reißen will, bald jeden von sich stößt. Die Tänzerin verfügt über eine enorme Energie und brillante Technik.

Immer wieder gibt es aber auch ruhige Momente wie ein traumverlorenes Trio, das das Publikum glauben macht, es könne noch alles gut werden. Doch der Dämon entpuppt sich immer stärker als der Tod und ruht nicht bis zum finalen Mord Josés an Carmen. Das Corps de ballet zeigt keine Schwächen, weder in den Gruppenchoreografien noch bei Einzelaktionen. Ein hervorragender Tanzabend am Südharz, vom – wegen Corona reduzierten Publikum – stark und anhaltend gefeiert.

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