Kinderbrille aufsetzen!
Tanzplan veröffentlicht "Tanzkind" von Andrea Simon und Achim Reissner
Das Ergebnis jahrelangen Trainings kann sich sehen lassen, wie der luftig-leichte großformatige Bildband „Tanzkind“ von Andrea Simon und Achim Reissner zeigt. Dabei geht es hier nicht um Abbildungen gedrillter Tanzkinder, die artig ihre Ballettstunden, oftmals zum Wohle ihrer Eltern, absolviert haben.
Natürlich bildet auch hier das Ballett die Grundlage jeglichen Tanzes, was auch im freien Tanz und in der Fähigkeit des Ausdrucks in diesem Bildband sichtbar wird. So ist es nur konsequent, dass Andrea Simon auch Ballettgrundlagen vermittelt. Allerdings liegt ihr pädagogischer wie choreografischer Schwerpunkt eher im Freien Tanz, einschließlich moderner Tanztechniken, des Tanztheaters und der Improvisation. Seit etwa 30 Jahren bezieht die Choreografin und Tanzpädagogin Simon auch Kinder in ihre Tanzprojekte mit ein. Nicht zuletzt liegt das Geheimnis des Erfolges dieses anspruchsvollen Buchprojektes in Simons langjähriger, künstlerischer Arbeit mit Kindern. Simon freut sich daher, dass die Kinder „durch die Jahre so ein Vertrauen in mich und meine Vorhaben entwickelt (haben), dass ein solches umfassendes Bildbandprojekt schnurgerade laufen kann“.
Simons pädagogisches und künstlerisches Ziel ist es, ihre Schüler *innen mit den technischen wie choreografischen Mitteln für eigenständige Ausdrucksmöglichkeiten auszustatten. Den Kindern „kindgerecht aber auf Augenhöhe zu begegnen - voller Ernsthaftigkeit und Empathie“, ist Simons Credo.
Diese Rechnung scheint aufgegangen zu sein. Denn wie dieser neue Bildband zeigt, nutzen die Kinder dieses Rüstzeug, um ihre Persönlichkeit zu entfalten: Die Intensität der Übungen, der Posen, der Formationen mit bis zu neun Tänzer*innen (im Alter von 6 - 12 Jahren und eine Mutter) sprechen eine deutliche, lebendige Sprache.
Es ist ein Buch, das ohne Text auskommt. Überschrieben sind lediglich die fünf Kapitel mit den Gedankensplittern „Initio“ - Anfang, „Curiositas“ - Neugier, „Mobilitas“ - Beweglichkeit, „Coniunctio“ - Verbindung und „Campus Lusorius“ - Spielplatz. Es sind Stationen des Lebens, die hier durchschritten oder durchtanzt und zum Leben erweckt werden, wobei das Kapitel „Coniunctio“ den Schwerpunkt dieses Buches bildet. Mal werden die Tänzer*innen allein oder in der Gruppe fotografiert, mal im Sprung, mal mit einem roten Faden, mal mit Chiffontüchern, mal mit Schlegeln von Schlagwerkinstrumenten oder kleinen Bällen.
Mit einfachen Requisiten, wie den grün-weißen, großen Würfeln mit Puppengeschirr wird z.B. zunächst ein Kaffeekränzchen auf die Bühne gebracht (Kapitel „Curiositas“), bevor es im Kapitel „Coniunctio“ mit allem schauspielerischen Schalk als Kaffeetänzchen in Szene gesetzt wird und an Dynamik gewinnt.
Wörtlich oder auch nicht wörtlich zu nehmen sind die in diesem Fotoband enthaltenen Ballspiele. Einmal mehr wird dokumentiert, dass Geschicklichkeit, Körperbeherrschung die Voraussetzungen für einen fantasiereichen Ausdruck bilden. Originell wie einfach und wirkungsvoll hat Simon dem guten, alten, ledernen Medizin-Ball ein Comeback beschert, um die Kinder zu ausdrucksvollen Posen, Balanceübungen oder Bewegungen zu inspirieren. Auch das weiße Bettlaken wird für künstlerische Zwecke umgewidmet und eröffnet ungewöhnliche Perspektiven.
Dass diese Ausdruckskunst der Tänzer*innen so ausgezeichnet zur Geltung kommt, ist der schlichten wie adäquaten Kostümwahl, dem abgestimmten Setting und dem fotografischen Auge Achim Reissner in Kombination mit Andrea Simons Inszenierung sowie den engagierten Teilnehmern zu verdanken.
Nichts erinnert an die bedrückende Corona-Zeit, in der dieses Projekt entstanden ist: Luftige, fließende Kostüme in lichtem Grau – kontrastierend zu enganliegenden, neonfarbenen Tütüs einerseits, dann schwarze, ‚fließende‘ Kleider, rote Requisiten und weiche Chiffon-Tücher andererseits sind die Stoffe, aus denen die Träume sind. Auch die Haarpracht der Tänzer*innen fügen sich in dieses kongeniale Gesamtkunstwerk.
Es sind bewegende und inspirierende Bilder, Momente des Glücks, des Esprits, auch der Melancholie, Anspannung und des Spiels, die hier eingefangen worden sind. Dem Betrachter bietet sich die Gelegenheit, in die Vielfalt der Tanzim- und -expressionen einzutauchen und sich auf neue Sichtweisen einzulassen.
Nicht zufällig hat Andrea Simon für ihr außergewöhnliches, sehr empfehlenswertes Kompositum den Titel „Tanzkind“ gewählt. Das Buch lädt gerade Erwachsene dazu ein, im positiven Sinne, die Kinderbrille aufzusetzen, sich die kindliche Neugier zurückzuholen oder zu bewahren – „Curiositas“ und „Continuatio“ eben.
Andrea Simon und Achim Reissner: „Tanzkind“ – Tanzfotografie Bildband,
www.tanzplan.de/publikationen/tanzkind, Eigenverlag Andrea Simon, 54 €
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