Es ist eine schöne Tradition, dass die Tänzer*innen des Hamburg Ballett alle ein bis zwei Jahre Gelegenheit bekommen, eigene Choreografien zu zeigen. Coronabedingt wurde die Präsentation ihrer jüngsten Arbeiten vom März 2020 auf Oktober 2021 verschoben, wodurch sich die Möglichkeit eröffnete, sie noch gründlicher durchzuarbeiten. Zahlenmäßig sind es mit neun auf zwei Programme verteilten Arbeiten dieses Mal weniger Stücke als sonst, aber das gereicht dem Ganzen nicht zum Nachteil – im Gegenteil.
Immer noch skandalös ist indes, dass diese teilweise höchst beachtlichen Kreationen wie schon in den Vorjahren an einem Ort gezeigt werden, der ihrer nicht würdig ist: Auf der winzigen, gerade mal zimmergroßen „Bühne“ der Opera stabile mit ihren knapp 100 Zuschauer*innen können sie nicht ihr volles Potenzial entfalten. Dies umso weniger, wenn man schon in der zweiten von sechs Zuschauerreihen die Tänzer*innen nur noch bauchaufwärts sieht, beim Tanz kommt es aber ja gerade auf die Füße an, ganz zu schweigen von den Passagen, in denen sich das Geschehen auf dem Boden abspielt. Es bleibt nicht nachvollziehbar, warum es nicht möglich sein soll, solche Ereignisse wenigstens in die K2 der Kampnagelfabrik zu verlegen – da fehlt es offenbar am Willen, und das vielleicht sogar auf beiden Seiten. Die Leidtragenden sind die Tänzer*innen und ebenso das Hamburger Publikum, das die Kompanie nur zu gern auch in anderen Rollen als den gewohnten auf der Bühne der Staatsoper sehen würde, wie die große Nachfrage zeigt (Die insgesamt vier Vorstellungen mit ihren wenigen Plätzen waren im Handumdrehen ausverkauft). Ein Programm wie dieses wäre eine willkommene Bereicherung für alle – für das Kampnagel-Publikum ebenso wie für die Fans des Hamburg Ballett, die normalerweise in die Staatsoper pilgern müssen, um diese Weltklasse-Kompanie zu sehen. Dies umso mehr, als die Tänzer*innen hier stilistisch kräftig gegen den gewohnten Strich bürsten – und das auf überaus gekonnte Art und Weise.
Was zu sehen war in diesen zwei Programmteilen, war jedenfalls höchst respektabel. Ob es die Leichtfüßigkeit von Alice Mazzasettes „Alla vita“ ist, eine Liebeserklärung an das Leben schlechthin, der sich Torben Seguin und Madeleine Skippen gekonnt hingeben, oder das akrobatisch-virtuose Bravourstückchen „Vortex“ von Florian Pohl, das er selbst mit der phantastischen Madoka Sugai (Was kann diese Tänzerin eigentlich nicht?!) auf die Bühne zaubert. Oder auch „Fusion“, die Kreation des erst 21-jährigen Lasse Caballero, dem damit ein beachtlicher Pas de Deux gelingt, den Alice Mazzasette und Ricardo Urbina aufs Feinste ausarbeiten.
Herausragend in Teil eins sind jedoch zwei Arbeiten zu eher düsteren Themen: Edvin Revazovs „Miss Julie“ nach dem Theaterstück von August Strindberg und „Bunker“ von Aleix Martinez. Revazov kondensiert die tragische Liebesgeschichte zwischen der Adligen und dem gebildeten Diener, der eigentlich der Köchin versprochen ist, mit beredtem Bewegungsvokabular auf ein absolutes Minimum, ohne den Spannungsbogen zu verlieren. Anna Laudere als Fräulein Julie zeigt hier endlich einmal eine Expressivität, die man sich schon so lange von ihr wünscht. Wie sie sich von der arroganten Dame der upper class in das verlorene, verletzbare Mädchen wandelt, das alles hat und doch zugleich nichts und letztlich zum Spielball des Geliebten wird, bevor sie an diesem Zwiespalt scheitert – das ist beachtlich. Emilie Mazon hat den Part von Kristin, der Köchin, übernommen, und zeichnet sie mit der ihr eigenen Bescheidenheit und Würde, aber auch mit der nötigen Empörung über den untreuen Mann und die Nebenbuhlerin. Lennard Giesenberg vom Bundesjugendballett dagegen als Diener Jean wurde darstellerisch seinem Part nicht wirklich gerecht – schade.
Der „Bunker“ von Aleix Martinez für acht Tänzer*innen ist choreografisch das reifste Werk des Abends, mit fein ausgearbeiteten Ensembles, die sich immer wieder zu ikonischen Tableaus formatieren, bevor sie in zombiehafter Zeitlupe wieder erstarren oder sich marionettenhaft weiterbewegen. Ein blauer Punkt an der Wand markiert die Beständigkeit, das Bleibende, während rundherum die Welt in Trümmer fällt. Ein Mann in weißem Raumanzug schreitet als Alien durch die Szenerie – zum Schluss rettet er eine Frau vor dem Untergang und geht mit ihr davon. Gänsehaut-Feeling...
Bemerkenswerte Kreationen auch im zweiten Programm. Mit „Their Silence“ macht Ricardo Urbina ein Tabu zum Thema: die Unterdrückung und Misshandlung von Frauen in seinem Heimatland Mexiko, bei dem vor allem Charlotte Larzelere und Emiliano Torres neben vier weiteren Tänzerinnen brillieren. Das ist anrührend und gekonnt zugleich. Ein optischer Hochgenuss dann „Especially for you“ von Illia Zakrevskyi, ein atemberaubender, sich abenteuerlich ineinander verschlingender und umkreisender Pas de Trois, der bei aller Erotik jedoch nie vulgär oder obszön gerät und von Olivia Betteridge, Florian Pohl und Sasha Trusch meisterhaft zelebriert wird. „Mycelium“ von Louis Haslach für sechs Tänzer*innen macht wiederum die Ausbeutung und Vereinzelung zum Thema, lässt dann aber doch die Kraft der Gemeinschaft siegen.
Zum Schluss noch ein kleines Meisterwerk: „ilone. The Experiment“ von Marc Jubete, ebenfalls für sechs Tänzer*innen konzipiert. Sie sind allesamt Handy-Junkies, die einander nicht mehr sehen und wahrnehmen, weil sie ständig auf ihre Smartphones starren und von ihnen gesteuert werden. Erst als zwei von ihnen (Yaiza Coll und Aleix Martinez) das Ding aus der Hand legen, erwachen sie zum Leben, erkennen sie einander und ihre Gefühle, die jedoch sofort wieder ersterben, sobald sie das Handy ergreifen und sich damit erneut in dessen Bann begeben. Wunderbar die Persiflage auf den Run auf neue iPhones, wenn ein verkleideter Nikolaus von oben herabsteigt und einen Einkaufswagen mit Schachteln hereinschiebt, über den alle gierig herfallen. Großartig der Schluss, bei dem die Tänzer*innen dem Publikum den Spiegel vorhalten, indem sie es bei voller Beleuchtung einfach anstarren und niemand weiß, ob das Stück jetzt schon zu Ende sein soll oder nicht, was sich am zaghaften Applaus bemerkbar macht, der rasch wieder erstirbt. Danach ist der Abschluss umso deutlicher...
Die „Jungen Choreografen“ bestreiten 2021 zwei höchst spannende Programme talentierter Tänzer*innen, die die Hoffnung nähren, dass es im kommenden Jahr oder 2023 ja vielleicht doch gelingen möge, sie endlich einmal dort in Szene zu setzen, wo sie hingehören: in die Kampnagelfabrik.
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