"Via Traviata"

"Via Traviata" von Katja Erdmann-Rajski

Frau ohne Klischee

Katja Erdmann-Rajski zeigt mit „Via Traviata“ in Stuttgart eine BodyOpera mit Guiseppe Verdi

In Verdis Vorlage kommt eine Frau vom Weg ab. Nicht so in dieser Arbeit. Die Figur der Violetta ist hier aufgespalten auf zwei Performerinnen, die weibliches Verhalten in Frage stellen.

Stuttgart, 03/11/2021
Ihr Weg ist vorgezeichnet. In Form eines V projiziert ihn Carolin Bock auf den dunklen Boden. V wie Via. V wie Violetta. Laura Guy, eine große, schlanke, kraftvolle Tänzerin, geht ihn als erste, und sie geht so, als ob ihr irgendwelche Männerblicke folgen würden. Noch ist sie allein. Auf der Bühne im Treffpunkt Rotebühlplatz finden sich vereinzelt Stühle, einer links, mehrere rechts. Ein weiteres Mal geht Laura Guy ihren Weg, während Verdis Musik erklingt. Erst beim dritten Mal kommt sie kurz ins Stocken. Ein Innehalten. Vielleicht eine Irritation. Nicht mehr. Erst beim vierten Versuch verändert sich ihr Gang; beim fünften bewegt sie sich fast obszön, als wollte sie wie in Bartóks Ballett „Wunderbarer Mandarin“ einen Liebhaber von der Straße locken. Violetta ist schließlich nicht irgendwer. In Verdis Oper „La Traviata“ wird sie uns als Kurtisane vorgestellt. Als jemand, der, wie im Titel andeutet, vom Weg abgekommen ist. Vom rechten Weg, um genau zu sein.

Katja Erdmann-Rajski erzählt in ihrer neuen BodyOpera „Via Traviata“ nicht Violettas Geschichte, wie wir sie aus der Oper kennen. Sie folgt vielmehr Verdis Musik, die in einer legendären Einspielung unter Leitung von Carlos Kleiber zu hören ist, und wenn ihre Violetta schon nicht singt, spricht der Körper ihrer Interpretin umso intensiver. Nein, die Choreografin reflektiert hier nicht ein persönliches Schicksal. Spätestens dann, wenn Saskia Hamala dem Beispiel ihrer Kollegin folgt, ist auch das Publikum gefragt, warum beide immer wieder Verhaltensklischees eines ganz spezifischen Frauseins reproduzieren. Wollen sie ihren „Marktwert“ steigern, so wie das einst die britische Oben-ohne-Tänzerin Christine Keeler mit ihren Fotos getan hat? Katja Erdmann-Rajski zitiert sie hier vermutlich eher unbewusst. Oder wollen sie mit scheinbarer Nacktheit provozieren?

Laura Guy und Saskia Hamala bleiben allerdings auf ihren Stühlen nicht sitzen, sondern tanzen ganz in den Raum hinein – oft wild bewegt bis zum Umfallen, dann wieder bildhaft, ausdrucksstark und so assoziativ, dass sich durchaus auch eine andere Lesart des Ganzen denken ließe. Ein körperlicher Bezug zur Musik ist jedenfalls stets erkennbar. Nichts wirkt unbegründet, und wenn eine der beiden Violettas vielleicht zu einer Arie dahin schmilzt, hilft eine andere Szene dem Pendant womöglich auf die Sprünge. Kontrapunktisch ist eine Gruppe „Tanzinteressierter“ eingesetzt, und das Publikum, das während des Entstehungsprozesses auf das Stück Einfluss nehmen konnte, ist als Adressat immer in die Aufführung einbezogen und damit auf ungewöhnliche Weise präsent. Am Ende geht Laura Guy wie zu Anfang den gewohnten Gang. Man könnte den Eindruck haben, als ob sich an den Verhältnissen nichts geändert habe. Und doch ist das Bewusstsein jetzt ein anderes. Auf der Bühne und im Zuschauerraum.

Kommentare

Noch keine Beiträge