Der Schmerz der Erkenntnis
Mit John Neumeiers „Sylvia“ eröffnet das Hamburg Ballett die Spielzeit 2021/22
Sie haben schon mehrmals große Partien zusammen getanzt (z.B. in Rudolf Nurejews Version von „Don Quichotte“ oder John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“) und jedes Mal war es ein Fest, aber jetzt, bei der Wiederaufnahme von John Neumeiers „Sylvia“ zur Musik von Léo Delibes zeigten Madoka Sugai und Sasha Trusch so eindringlich wie noch nie zuvor, dass sie ein ideales Paar auf der Bühne und im Tanz sind. Ihre enorme Präsenz, ihre fulminante Technik, ihre Dynamik und Attacke, aber auch ihre Weichheit und Zärtlichkeit, ihre Hingabe an diese ungemein durchdachte, bis ins Letzte ausgearbeitete und mit zahllosen Schwierigkeiten gespickte Choreografie, ihre Darstellungskraft, mit der sie jede Nuance ausziselieren bis in die Fuß- und Fingerspitzen – das ist Tanzkunst in Vollendung. Und es scheint, als seien die Rollen der Amazone Sylvia und des Schäfers Aminta nur für sie geschaffen worden – so ideal füllen sie sie aus, so selbstverständlich zeichnen sie alle Schattierungen dieser vielschichtigen Charaktere.
Ursprünglich für das Ballett der Pariser Oper geschaffen (damals mit dem wunderbaren Manuel Legris als Aminta), gehörte „Sylvia“ schon ein halbes Jahr nach der Uraufführung im Sommer 1997 zum Repertoire des Hamburg Balletts und steht seither immer wieder auf dem Spielplan. Es ist Neumeiers großes Verdienst, dass er die ziemlich kitschige Story von der vergeblichen Liebe zwischen dem Schäfer und der Nymphe von allem Schwulst befreit hat und die eigentlichen, die zeitlosen Themen in den Mittelpunkt stellt. Sein Anliegen war es, Tanzbilder zu schaffen „von einer starken, sportlich-kämpferischen Frau, die, hin- und hergerissen zwischen Kraft und Verletzlichkeit, nur schwer eine Balance findet zwischen Angriff und Zartheit, Panzerung und Hingabe, die erst Sinnlichkeit erfahren und Leidenschaft durchleben muss, um die einfache, schlichte Liebe zu entdecken“, schreibt Neumeier selbst im Programmheft. Er findet dafür tatsächlich ein kongeniales Bewegungsvokabular, das in seiner Vielfalt und Vielschichtigkeit bestechend ist.
Überzeugend ist Neumeiers Interpretation auch deshalb, weil ihm Yannis Kokkos ein geniales Bühnenbild und nicht minder passende Kostüme zur Seite gestellt hat. Die Intensität des Farbenspiels zwischen Grün, Blau und Gelb, die reduktionistische Schlichtheit der Bühne mit den skizzierten Bäumen und der gebrochenen griechischen Statue – das ermöglicht in Kombination mit den schlicht-eleganten Kostümen, dass sich der Blick ganz und gar auf das Innere der Geschichte konzentriert, auf das Wesentliche.
Neben den beiden herausragenden Hauptdarsteller*innen sind auch die anderen Partien gut besetzt: Anna Laudere als Diana gibt eine glaubwürdig-herrische Amazonen-Chefin, die auch ihre weichen, zerbrechlichen Seiten hat. Jacopo Bellussi ist Endymion, den Zeus in einen ewigen Schlaf versetzt hat, wodurch er ewige Jugend erlangt – und von Diana heimlich begehrt wird. Christopher Evans als Liebesgott Eros schlüpft gleichzeitig auch in die Gestalt des Schäfers Thyrsis und des weltlichen Verführers Orion. Verglichen mit den großen Darstellern der Vergangenheit – unvergessen: Otto Bubenicek – ist da noch ein bisschen Luft nach oben.
Absolut großartig präsentiert sich das gesamte Ensemble – sowohl die kraftvollen Amazonen als auch die Geister des Waldes, verkörpert von sieben Tänzerinnen und sieben Tänzern, und später die „Gäste“ in schwarzen Anzügen und Abendkleidern im „Reich der Sinne“, in das die in roten Samt gehüllte Sylvia, angeführt von Eros/Orion, eintaucht. Ungemein lasziv-verführerisch: David Rodriguez, als einziger mit nacktem Oberkörper anstelle des weißen Hemdes, der sich mit Sylvia einen hinreißend erotischen Pas de Deux liefert.
Der unstrittige Höhepunkt des ganzen Abends ist jedoch der Pas de Deux am Schluss, wenn sich Sylvia und Aminta nach vielen Jahren erneut begegnen und sich jetzt endlich ihre Liebe eingestehen. Was Madoka Sugai und Sasha Trusch da auf die Bühne zaubern, ist absolut magisch: nicht nur wegen ihrer Tanzkunst, sondern auch, weil ihnen Anton Barakhovksy an der Solovioline zusammen mit dem von Markus Lehtinen umsichtig geführten Philharmonischen Staatsorchester einen so ungemein sensiblen, gefühlvollen Klangteppich unter die Füße und in die Seelen zaubert, dass es einem beim Zuschauen und Zuhören die Tränen in die Augen treibt. Denn diese Liebe findet keine Erfüllung – und der Schmerz der Erkenntnis einer unwiederbringlich verpassten Gelegenheit ist der eigentliche Kern der ganzen Geschichte. Standing Ovations für das Ensemble, den Choreografen und das Orchester – zu Recht.
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