"Bisonte"

"Bisonte" von Marco da Silva Ferreira

Auf der Suche nach dem Gleichgewicht

Die 31. euro-scene Leipzig ist politischer und aktueller geworden

Der neue Leiter Christian Watty kommt vom Tanz und widmet sich weiterhin den Performance-Künsten, aber mit neuen Gewichtungen. Das zeigte sich vor allem bei den beiden Uraufführungen „Amores de Leste“ und „Grand Reporterre #4 Deadline“.

Leipzig, 08/11/2021

Über den erfolgreichen Start der 31. euro-scene Leipzig unter neuer Leitung wurde an dieser Stelle schon berichtet. Bei einigen der weiteren Arbeiten konnte man den Nutzen und die Schwierigkeiten des dokumentarischen Theaters studieren, wie bei „Amores de Leste“, den vielfältigen Liebesbeziehungen zum Osten. Der Portugiese André Amálio erzählt von der Anziehungskraft, die der Kommunismus in seinem armen, faschistischen Land auf die Großväter-Generation ausgeübt hat. Seine Partnerin Tereza Havlíčková erzählt, wie die Tschechen nach 1968 endgültig den Glauben an den Sozialismus verloren hatten. Eine Monitorwand wie von Nam Yun Paik, auf der ab und zu Videos von der umfassenden Online-Recherche aufleuchten, bildet die Bühne.

Davor schlüpfen nun alle sechs Mitglieder der Theatercompagnie Hotel Europa in die Haut verschiedener Menschen, denen die Beziehungen zwischen den „Bruderländern“ übel mitgespielt haben: Afrikaner aus den ehemaligen portugiesischen Kolonien wurden mit Studier-Versprechen in die DDR eingeladen, gelandet sind sie aber in der Wurstfabrik. Nur 40 Prozent des Lohns wurde ihnen ausbezahlt, der Rest angeblich an ihre Familien in Afrika überwiesen. In Wirklichkeit bezahlte die DDR damit ihre Schulden und isolierte die Afrikaner so gut es ging. Nach der Wende wurden die Männer heimgeschickt und mussten ihre deutschen Frauen und Kinder zurücklassen. Seit dreißig Jahren kämpfen sie gegen die Trennung und für eine Entschädigung. Deutschland stellt sich taub.

„Amores de Leste“ war von der euro-scene koproduziert mit Culturgest Lissabon und dem Théâtre de la Ville Paris. Mehrsprachigkeit war auch wegen der gemischten Besetzung angesagt, die vielen Übertitel mitzulesen war etwas anstrengend. Die Musikauftritte machten das angenehmer, und die brisanten Informationen lohnten die Show ebenso wie die raffinierte Form. Auf eine solche verzichtete „Grand Reporterre #4 Deadline“, gebärdete sich dafür aber umso agitatorischer. Das Citizen.Kane.Kollektiv aus Stuttgart und das Théâtre du Point du Jour aus Lyon präsentierten vor großer Leinwand einen „Essay“ der jungen Journalistin Julia Lauter über die allbekannten Klimafragen. Einen albernen Prometheus als Metapher einzuführen und in Schutzanzügen aufzutreten, ließ die zähe Präsentation nicht besser werden. Dennoch fand auch diese Produktion ihre Fans.

Wie beklemmend dagegen wirkt „Pleasant Island“ von Silke Huysmans & Hannes Dereere / CAMPO aus Belgien! Nur zwei drei Meter hohe Leinwände und daneben die beiden Belgier, die ausschließlich auf ihren Smartphones herum tippen: Live erleben wir die Suche nach den Interviews mit Bewohnern der Insel Nauru, sehen Videos von der durch Phosphat-Bergbau verwüsteten Insel, Fotos von Politikern, selbst die Musik wird so vor aller Augen generiert. Erschütternd wirkt diese nur scheinbar simple Form wegen des Schicksals der Südseeinsel, die einst als reichster Staat der Welt gepriesen wurde, dabei aber ihre eigenen Lebensgrundlagen verzehrt und vernichtet hat. Jetzt wird sie von Australien für Migranten-Lager missbraucht. Nauru ist das Modell dafür, was nun dem ganzen Planeten droht.

Neu bei der euro-scene war auch die 1. Plattform Studiotrade. Christian Watty kommt ja von der Düsseldorfer Tanzmesse und rief dort 2010 das Austausch- und Kooperationsnetzwerk Studiotrade ins Leben, um den Tanzgruppen die Zusammenarbeit bei Infrastruktur, Recherche, Markterschließung zu erleichtern. Gemeinsam mit 4fürTanz e.V., der Plattform der Leipziger Tanzschaffenden, bot die euro-scene innerhalb von zwei Stunden einer Anzahl internationaler Künstler und Gruppen Präsentationsmöglichkeiten, die von den Akteuren der Szene aufmerksam beobachtet wurden. Die Leipzigerin Clara Sjölin zeigte ein Solo, das an die Kulturgeschichte des Monte Verità anknüpft, während die Französin Marie Gourdain mit dem Leipziger Felix Baumann eine hier entwickelte Bühnenarchitektur vorführten, mit der sie neue Stücke wie „Seismic“ entwickeln. Luc Bénard aus Nizza zeigte ein kraftvolles Tanzsolo aus seinem Zyklus „Utopias“.

Unter den zwölf meist zweimal präsentierten Produktionen waren sechs dem Tanz gewidmet – das Gastspiel von tanzmainz mit „Soul Chain“ von Sharon Eyal sollte den abschließenden Höhepunkt bilden, musste aber aufgrund von Erkrankungen durch einen Film mit Diskussionsrunde ersetzt werden. Ihren umjubelten Erstauftritt(!) in Leipzig hatten Sasha Waltz & Guests mit ihrem Klassiker „Allee der Kosmonauten“. Die Leipziger Forward Dance Company brachte ihr neues Stück „Einblicke“ zur Uraufführung.

Einen starken Auftritt hatten die je drei Tänzerinnen und Tänzer der portugiesischen Compagnie Pensamente Avulso mit „Bisonte“ von 2019 auf der Großen Bühne des Schauspielhauses. In Sportkleidung – Männer und Frauen sind zunächst nicht zu unterscheiden – tanzen sie den vom peitschenden Rhythmus der elektronischen Musik vorwärtsgetrieben Zwang zur Selbstoptimierung: Kraft dominiert, daher der Titel „Bison“, Symbol für eine Herde, die alles niedertrampelt, was ihr in den Weg kommt. Derart dialektisch sind ja auch Hip-Hop und urban dance. Choreograph Marco da Silva Ferreira lässt die Gruppe sich austoben, bis Einzelne und Gruppen ausscheren und zu weicheren Bewegungen finden. Battle und Harmonie wechseln sich ab – eine feine Reflexion über heutige Lebenswelten.

Spektakulär der Auftritt der französischen Tänzerin Tatiana Julien mit ihrem Solo „Soulèvement“ im LOFFT. Schon der Titel spricht ja von Revolte. Beim Einlass hatte eine dunkle Gestalt im Hoodie auf dem Boden gelauert, doch sobald die Musik des Popstars Mylène Farmer erklingt, wirft sie die Klamotten ab und springt stolz und ekstatisch durch den Raum. Das Glimmertrikot passt zu dem Song „Génération Désenchantée“, der das Lebensgefühl jener entzauberten Jugend ausdrückt, aber nicht wehleidig, sondern voller Protest. Es wird auch fühlbar, welchen Quantensprung die Musik der Beatles, Rolling Stones und anderen damals bedeutet hat, welche Kraft der Selbstermächtigung sie der Jugend in die Hand gab. Ihre Darstellungsmittel entlehnt Julien dem Hip-Hop, dem Krumping, aber auch dem Online-Kampfspiel Fortnite – in der Covid-Pandemie hat der Tanz sich auch ohne Bühne und Live-Erlebnis weiterentwickelt. Dann verschwindet sie kurz und kommt in Sportklamotten wieder. Nun scheint sie sich einem Kampf oder einer Arbeit hinzugeben, eine fordernde Powerfrau. Wieder Black, und zurück kommt eine Philosophin, die Martin Luther King, Allen Ginsberg, Barbara Jordan, Eric Hobsbawm und andere Autoren der Revolte zitiert. Zum Schluss die Explosion: Splitternackt tobt die Tänzerin durch die Arena, schlittert über den nassen Boden, entgrenzt in jeder Hinsicht. Was für eine Stunde!

Schwer beeindruckend auch der Doppelabend „Ruins / Hope“. Im Duo „Ruins“ erscheinen aus dem Dunkel zwei männliche Gestalten, von der die hintere die vordere eng umklammert hält. In ständigem, raffiniert ausgeleuchtetem Halbdunkel ringen sie miteinander. Nicht erotisch, sondern eher wie Brüder, die bald im Spaß, bald im Ernst miteinander ringen und nicht voneinander lassen können. Rhys Dennis und Waddah Sinada befehden sich in Slow Motion, um dann blitzschnell den Schlag zu führen, der den Anderen zu Boden zwingt. Die gute alte Kontakt-Improvisation dient ihnen ebenso wie Hip-Hop-Figuren und afrikanische Tänze, um einen ungeheuer spannenden Zweikampf zu zeigen – der am Ende tatsächlich mit dem Sieg dessen zu enden scheint, der die Umklammerung endlich überwunden hat.

In der Pause werden die Zuschauer aus der Diskothek des Schauspiels an die frische Luft getrieben. Endlich erscheint ein Kleinwagen, der stämmige Fahrer steigt aus, öffnet den Kofferraum und schmeißt eine schmächtige Figur auf die Straße. Die irische Tänzerin Sati Veyrunes, gekleidet wie ein Straßengör, springt aber gleich wieder auf und jagt über den Platz, nimmt Kontakt auf mit dem Publikum. Drinnen im Theater führt sie ein Solo auf, das zwischen ohnmächtiger Revolte und bitterem Scheitern hin- und hertreibt. Sie gibt der Belfaster Unterschicht eine Stimme, die sich beim Publikum einbrennt. Schon dieser erste Teil zeichnete ein differenziertes Portrait der Unterdrückten. Schnitt. Nach dem Black zeigt Doherty sich im Licht als eine weißgekleidete Gestalt – schließlich verspricht der Titel ihres Solos „Hope Hunt & The Ascension into Lazarus“ eine Auferstehung. Dass sie diesen Teil zu sanfterer Musik nun mit neuen Mitteln aufzuladen weiß, macht das von Oona Doherty choreografierte Solo umso bestaunenswerter.

Kommentare

Noch keine Beiträge