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Wie man in Stuttgart zum „Wutbürger“ des Balletts wird

oe
Stuttgart, 08/01/2012

Benutzen wir den Freiraum der premierenlosen Zeit für ein paar Anmerkungen am Rande! Zunächst der Hinweis auf das schönste Ballettbuch des Jahres: Iris Julia Bührle, „Robert Tewsley – Tanz über alle Grenzen“, bei Königshausen & Neumann in Würzburg, 128 Seiten, zahlreiche Farb- und Schwarzweißfotos, alle Texte in deutscher und englischer Sprache. Die Lady, Stuttgarterin, die in Paris lebt und dort an ihrer Doktorarbeit über das Verhältnis zwischen Literatur und Tanz schreibt, ist den Usern des „tanznetz.de“ als Korrespondentin der Pariser Tanzszene bekannt. Sie hat die Arbeit Tewsleys seit seinen Stuttgarter Jahren und danach intensiv verfolgt, begleitet und kommentiert und ihn in zahlreichen Interviews befragt und ihn zu so intelligenten wie informativen und offenherzigen Antworten veranlasst, wie man sie diesem so zurückhaltenden Engländer kaum je zugetraut hätte.

Sie hat dazu eine süperbe Fotoauswahl seiner internationalen Auftritte getroffen, die sie so suggestiv präsentiert, dass man sich wünscht, sie würde nach ihrer Promotion eine Karriere als Tanzbuchverlegerin machen, denn sie beherrscht dieses Metier wie keine andere und kein anderer hierzulande! Ein Hinweis schließlich auf die Programmhefte des Bayerischen Staatsballetts – zuletzt für die Wiederaufnahmen von Neumeiers „Schwanensee“ und seinen „Nussknacker“ und besonders das Heft für die vorweihnachtliche „Steps & Times“-Premiere der „Very British“ betiteltem Saison, mit dem nachgestellten !?, das keiner der vielen Rezensenten beachtet hat, und das doch raffiniert hinterfragt, was denn die Ballette etwa von Ashton und MacMillan (aber auch Cranko) für den Kontinentalgeschmack „typisch englisch“ erscheinen lässt – und von den Autoren der verschiedenen Beiträge ganz präzise beantwortet wird (besonders von Christopher Carr als Coach der Münchner Einstudierung von Ashtons „Scènes de ballet“).

Bleiben wir noch kurz bei den Engländern – und zwar beim Januar-Heft der englischen „DancingTimes“ (ach gäbe es doch auch bei uns eine so interessant und informativ gemachte, leserfreundliche Tanzzeitschrift!). Dieses Heft also besonders wegen der brillanten Berichte über die eher fragwürdige Bolschoi-Aufführung von „Esmeralda“ (gilt auch für die höchst überflüssige Übernahme nach Berlin), über die Mailänder „Raymonda“ (mit u.a. Friedemann Vogel als Jean de Brienne – kein Wort darüber in der deutschen Presse), über den Münchner „Nussknacker“, über Ratmanskys „Romeo und Julia“ beim National Ballet of Canada – macht der nicht doch ein bisschen zu viel in letzter Zeit? Übrigens in dieser Produktion auch mal wieder ein Hinweis auf den von Stuttgart nach Toronto emigrierten Jiří Jelinek als Tybalt – ob sich wohl dessen Hoffnungen auf den transkontinentalen Transfer erfüllt haben?), schließlich ein sehr kritischer Bericht über das neue Grigorowitsch-„Dornröschen“ beim Bolschoi-Ballett, das es ja auch bei uns zu Weihnachten im arte-Fernsehen gab – und letztendlich auch noch über ein Programm der Mixed Bills beim American Ballet Theatre, in dem es unter anderem auch Demis Volpis „Private Light“ für zehn Tänzer gab – allerdings eher negativ vom New Yorker Korrespondenten der DT beurteilt – als ein Ballett, in dem unentwegt geküsst wird – der Stuttgarter „Orlando“-Kussvirus als transatlantischer Export?

Immerhin: dies nur eine kleine Auswahl von Beiträgen im Januar-Heft, über die wir im einschlägigen deutschen „tanz“ nichts erfahren! Noch ein paar Hinweise auf DVDs. Eine ideale Ergänzung zum Münchner „Very British!?“-Programm liefert die bei Opus Arte erschienene DVD „Frederick Ashton“ mit dem Royal Ballet in „Les Patineurs“, „Divertissements“ (darunter auch „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“, getanzt von Tamara Rojo) und den „Scènes de ballet“. Dazu gibt es noch ein Bonus Programm mit Kommentaren von Christopher Carr, von dem ja auch das ungewöhnlich ergiebige Interview im Münchner Programmheft stammt. Unter den Tänzern sind die Japanerin Miyako Yoshida, der Russe Ivan Putrov und der Cubaner Carlos Acosta – alle Mitglieder des Royal Ballet und so total integriert in die Kompanie, als wären sie in England aufgewachsen. Was einmal mehr die globale Allgemeinverbindlichkeit der Danse d‘école im Hinblick auf die guten Manieren und das zivile Benehmen der Menschen untereinander beweist. Ach gäbe es doch so etwas wie eine vergleichsweise weltweit gültige École des manières, ginge es auf unserem Planeten wesentlich gesitteter zu! Wie wär´s denn, wenn die Münchner ihrem Programmheft die Ashton-DVD als Bonus mitlieferten? Eher verblüffend die 34minütige DVD „Hans van Manen creating Without Words“ sozusagen als Vorausgabe für die diversen Festivitäten anlässlich seines im Juli bevorstehenden achtzigsten Geburtstags. Sie begleitet die Einstudierung eines Pas de deux (mit verschiedenen Tänzern des Het Nationale Ballet) zu Hugo Wolfs „Mignon“-Liedern, das heißt nur zu deren Klavierbegleitung, ohne die dazugehörigen Gesangstexte (auf die Idee muss erst mal jemand kommen!) – und zwar nicht als deren tänzerische Interpretation, sondern als reines musikalisches Agens (etwas Ähnliches gab es ja schon vor Jahren von Klaus Geitel in Zusammenwirken mit dem Pianisten Irwin Gage – aber ohne Tanz). Verblüffend nicht zuletzt im Hinblick auf die ungebrochene Kreativität des holländischen Meisters. Nicht im Handel, aber vielleicht ja doch um die Ecken herum zu beziehen durch die Stichting Hans van Manen (www.hansvanmanen.com).

Meine Begeisterung für die „Tribute to Jerome Robbins“-DVD mit dem Pariser Opéra Ballet (BelAir, BAC070) hält sich dagegen in Grenzen. Sie bietet drei Ballette von Robbins: „En Sol“ zu Ravels Klavierkonzert in G-Dur, „In the Night“ (die drei Chopin-Pas-de-deux plus Pas de trois – auch im Repertoire von München und Zürich) und „The Concert“ (die Unglücksfälle beim Anhören von Chopinscher Klaviermusik – auch im Repertoire von Hamburg). Dazu gibt es einen Pas de quatre „Triade“ von Benjamin Millepied, der ist Principal beim New York City Ballet und bei uns bekannt, durch ein paar Arbeiten beim Dortmunder Ballett und durch den Film „Black Swan“. Das ist nun eine völlig zusammengestoppelte unorganische Choreografie, die danach fragen lässt, wie sie ins Repertoire einer so renommierten Kompanie wie die der Pariser Opéra gelangen konnte. Beteiligt sind ein paar Principals aus Paris wie Marie-Agnes Gillot, Laetitia Pujol, Agnes Letestu und Nicholas Le Riche. Der Ravel entstand für das Festival des New York City Ballet 1975, erfreut sich dort und in Paris offenbar großer Beliebtheit, ist mir aber zu verspielt und kleinteilig – ich ziehe Neumeiers Version „Now and Then“ (zuerst 1993 beim National Ballet of Canada in Toronto) entschieden vor – und für „The Concert“ kann ich mich bei jedem Wiedersehen weniger erwärmen. Das lässt die Chopin-Pas-de-deux-Nocturnes als funkelnde Bijous übrig – aber lieber wäre mir die lange überfällige DVD mit den „Dances at a Gathering“ (mir schleierhaft, weswegen es die nicht gibt, aber vielleicht weiß das ja irgendein Robbins-Erbe zu verhindern, so, wie der Cranko-Erbe die Veröffentlichung der existierenden TV-Mitschnitte von „Romeo“, „Onegin“ und „Widerspenstige“ blockiert.

Auch die kanadische DVD mit der Toronto-Einstudierung von Neumeiers „The Little Mermaid“ (Cmajor 708608) reicht meines Erachtens weder an die Originalversion in Kopenhagen noch an die Hamburger Produktion heran – trotz der Mitwirkung von Lloyd Riggins in der Zentralrolle des Hans Christian Andersen. Kein Vergleich zwischen der Hamburger Silvia Azzoni in der Titelrolle und der grässlich überschminkten Japanerin Yuan Yuan Tan in Toronto (fraglos eine tolle Tänzerin mit wunderbar geschmeidigen Armen und emphatisch leidend) und auch Davit Karapetyan in der Rolle der Sea Witch ist so japanisch grotesk überzeichnet, dass ich ihn hier fehl am Platze halte. Übrigens trägt auch hier das wiederholte Sehen nicht zum genaueren Verständnis der Story bei – zumal das Golfspiel auf schwankendem Schiff. Nein, da bietet die Hamburger Einstudierung doch entschieden mehr an spezifischem Andersen Märchenklima. Und schließlich einen ganzen Batzen von DVDs mit den Jahrgangs-Abschlussveranstaltungen der Staatlichen Ballettschule Berlin von 2003 („Paquita“, Birgit Scherzers „Geburtstag der Infantin“ und Robert North‘ “Troy Game“), 2005 („Giselle“ II. Akt und Marguerite Donlons „Die roten Schuhe“), 2007 (Balanchines „Serenade“ und Thorsten Händlers „Romeo und Julia“) und 2009 (Händlers „Ein Sommernachtstraum“).

Dazu gäbe es eine Menge zu sagen, denn zu unterschiedlich sind die Ergebnisse der einzelnen Offerten. Beteiligt sind Schülerinnen und Schüler des 1. bis 9. Ausbildungsjahres, und entsprechend geht es kunterbunt durch die einzelnen Jahrgänge. Auffallend der exquisite technische Standard in allen Klassen und der überspringende Enthusiasmus, das hundertfünfzigprozentige Engagement aller Beteiligten in ihren Rollen und Partien. Ihre Freude am Tanz schwappt über ins Publikum und wirkt unwiderstehlich ansteckend. Anzumerken ist, dass dies keine professionellen Aufnahmen sind, und ihre Qualität ist entsprechend unterschiedlich. Künstlerisch am gelungensten erscheint mir das Petipasche „Paquita“-Divertissement als Hohe Schule der Danse d´école (davon profitiert auch insgesamt der zweite Akt „Giselle“). Grundsolide auch Brigitte Thoms‘ „Serenade“ – sie ist ja eine lange und erfahrene Balanchine-Spezialistin. Und Norths „Troy Game“ ist natürlich auch für die und von den Berliner Jungs ein Heidenspaß. Nicht ganz so überzeugt mich Händlers „Romeo und Julia“ und „Ein Sommernachstraum“, besonders der letztere wirkt ziemlich überfrachtet und das Würstchen von Graf Paris in „Romeo“ ist wohl der fehlbesetzteste Tänzer, der mir je in einer Rolle begegnet ist (er kann nichts dafür – man hat regelrecht Mitleid mit ihm).

Donlons „Rote Schuhe“ (sie haben nichts mit Andersen und der Story des Films zu tun) halte ich für albern, neckisch und abgeschmackt und geradezu geschmacksverbildend für unschuldige junge Schüler. Ganz und gar nichts kann ich mit Scherzers „Geburtstag einer Infantin“ anfangen. Obgleich ich das Märchen von Oscar Wilde hinlänglich zu kennen meine, nicht zuletzt durch Ravel/Jooss´ „Pavane“, Zemlinskys Oper „Der Zwerg“ und Fortners Ballett „Die weiße Rose“, habe ich nicht einmal die Personen identifizieren können. Aber das lag wohl primär an der inakzeptablen Aufnahmetechnik mit ihren Long-Distance-Shots, der miserablen Beleuchtung und dem unsäglichen Massengewimmel auf der Szene: eine Produktion, die schleunigst gelöscht gehörte! Insgesamt mindert das nicht meinen Respekt für die von Rolf Stabel und Gregor Seyfferth geleistete Aufbauarbeit an der von ihnen geleiteten Schule in Berlin, mit denen ich gegenwärtig in Verhandlung stehe über den Transfer meiner bisher der Stuttgarter Cranko-Ballettschule überlassenen Koegler-Bibliothek an die Staatliche Ballettschule im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg.

Und so also zum Schluss dieser ohnehin schon viel zu langen ‚News‘. Er beginnt mit einem Tiefpunkt zum Jahresanfang. Nach jahrzehntelanger überaus positiver, nicht nur kollegialer, sondern ausgesprochen freundschaftlicher Zusammenarbeit mit den verschiedensten Chefredakteuren und Feuilletonchefs der „Stuttgarter Zeitung“ und, ja, einem gewissen Stolz, sie zum Flagschiff des deutschen Ballettjournalismus avancieren zu sehen, war es mit dem jetzigen Leiter des Kultur-Ressorts zu diversen Misshelligkeiten gekommen, derentwegen ich mich von dem einst so geschätzten Blatt getrennt habe. Seither ist es mit der „Stuttgarter Zeitung“ in puncto Ballettberichterstattung rapide abwärtsgegangen – und schlimmer noch: ist die „Stuttgarter Zeitung“ durch die sehr engagierten konkurrierenden „Stuttgarter Nachrichten“ eindeutig überholt worden. Mit dem Ergebnis, dass die interessierten Stuttgarter Ballettfans – und derer gibt es mehr als je zuvor – zu den sie besser und umfangreicher informierenden „Nachrichten“ abgewandert sind. Das zu verfolgen hat mich geschmerzt, aber was sollte ich machen? Ich bin im Internet via „tanznetz.de“ aufs „koeglerjournal“ ausgewichen, in dem ich mich über all das äußere, wofür die Zeitung mir keinen Platz mehr bot. Resignierend habe ich mich damit abgefunden – bis jetzt ein Tiefpunkt erreicht wurde: die Silvestergala des Stuttgarter Balletts mit einer „Schwanensee“-Vorstellung, in der Polina Semionova und Friedemann Vogel die Hauptrollen tanzten, laut „Esslinger Zeitung“, in Opernwährung übersetzt, Netrebko und Villazon die Top-Stars der internationalen Liga. Die Vorstellung und das Publikum entsprechend freudentrunken. Kein Wort darüber in der „Stuttgarter Zeitung“ am Montag (dafür aber ein Bericht von einer Operngala der Umbesetzungen aus Baden-Baden) – und auch am Dienstag nicht!

Da wurde der empörte oe zu einem „Wutbürger“ und schrieb einen entsprechenden Leserbrief an den Chefredakteur der „Zeitung“. Der gab den Protest weiter an seinen Leiter der Kultur-Redaktion, dessen Antwort die Nicht-Reaktion seines Blattes mit „redaktionellen Gründen“ erklärte, die aufzuzählen er sich ersparen könne, da „Sie ohnehin und auch diesmal nicht überzeugen werden.“ Da hat er allerdings den Nagel auf den Kopf getroffen. Es ist offenbar müßig, mit dem Chefredakteur und dem Kultur-Ressortleiter der „Stuttgarter Zeitung“ über den Stellenwert des Stuttgarter Balletts im Kulturleben der Stadt und der internationalen Szene zu diskutieren (eindeutig genießt das Ballett heute in Stuttgart eine höhere Popularität als die Oper und das Schauspiel). Aber ich finde es traurig, dass „Die unabhängige Zeitung für Baden-Württemberg“, die sich noch immer für die Erste im Lande hält, sich so hochmütig über die Interessen ihrer Leser hinwegsetzt. Und ich kann mich nur wundern, dass der Intendant des Stuttgarter Balletts eine solche abschätzige Einstellung seiner und seiner Mitarbeiter Arbeit so widerspruchslos hinnimmt.

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