Wie hältst Du’s mit dem Tanz in der Oper?

Verdi und Schönberg in Inszenierungen am Opernhaus Zürich

oe
Zürich, 24/05/2011

Die Titelfrage ist leicht zu beantworten. Die meisten Opernregisseure machen heutzutage einen großen Bogen um die ursprünglich vorgesehenen Balletteinlagen in ihren Inszenierungen. Früher, besonders in den großen Barockopern von Lully und Rameau bis zu Gluck und Mozart, und dann wieder im Gefolge der Grand Opéras im Gefolge von Meyerbeer im 19. Jahrhundert der Höhepunkt der Aufführungen, werden sie in unseren Tagen oft gestrichen oder so ausgedünnt, dass sie kaum noch als solche in Erscheinung treten. Unsere Opernballettkompanien sind sich zu fein, um in ihnen mitzuwirken, und so werden sie, wenn denn schon nicht ganz auf sie verzichtet werden kann, an ein paar externe Tänzer, beziehungsweise Eleven oder Statisten delegiert. Selbst Opern wie „Tannhäuser“. „Aida“ und „Carmen“, nicht zu reden von der „Fledermaus“, werden so nach bewährten Rezepten „light“ gegeben – verschlankt um ganze theatralische Kalorienladungen oder gar für überflüssig gehaltene Fettpolster.

Eine Ausnahme machte bisher der englische Regisseur David Pountney, der besonders bei den Bregenzer Festspielen, aber auch in Zürich, München und Wien (in England sowieso) wiederholt mit renommierten Choreografen zusammengearbeitet und so modellhafte Inszenierungen realisiert hat, die internationale Anerkennung gefunden haben. Wenn aber heute einmal ausnahmsweise etwa eine Händel- oder Gluck-Oper in originaler Besetzung, also mit großem Ballett zur Aufführung gelangt, so wird sie spektakulär als grenzüberschreitende Koproduktion angekündigt – wie jüngst wieder in Stuttgart bei Glucks in der französischen Version gegebenem „Orphée et Eurydice“.

Unglückseligerweise hat nun gerade in Zürich, wo er so viele Triumphe gefeiert hat, David Pountney Verdis „Un ballo in maschera“, ausgewiesen als Melodramma in tre atti und ganz ohne direkten Ballett-Bezug, inszeniert und mit Hilfe von Beate Vollack als versierte Opernchoreografin derart mit Tänzen angereichert, dass daraus eine regelrechte Ballettoper geworden ist, die mit ihren vielen Tänzchen lediglich von dem tragischen Kern des Konflikts ablenkt – Oper zum Abgewöhnen! Pountney hatte den unseligen Einfall, Verdis „Maskenball“ „so zu erzählen, dass Gustavo die ganze Handlung wie ein Theaterstück selbst inszeniert“ – mit dem Ergebnis, dass der König, der ursprünglich einem Mordanschlag bei einem Maskenball zum Opfer fällt, als Einziger am Leben bleibt, während die gesamte Totentanzgesellschaft das Zeitliche segnet.

Das beginnt bereits vor dem ersten Akt, wenn der König mit einem Handpuppenkasper vor dem Vorhang dem Dirigenten das Zeichen zum Einsatz gibt und dann das ganze höfische Gefolge, sich aufmacht zu einem Besuch bei der Wahrsagerin Ulrica – eine Tingeltangeleuse, die durch das ganze Stück geht – eine Gruppe, kostümiert wie kölsche Karnevalsjecken, einen Cancan à la Offenbach absolviert, später dann einen Gespensterreigen im schwarzen Frack und Zylinder samt weißen Unterhosen praktiziert und beim eigentlichen Maskenball im Finale dann als höfische schwedische Mittsommernachtsfiguranten eine Art Menuett zelebriert. Die ganze Produktion stattet gleich am Anfang den Pagen Oscar mit Flügeln wie einen Boy Merkur aus und lässt ihn als Marionette in den Schnürboden entflattern, aus dem sich zuvor eine überdimensionale Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger abgesenkt hat. So überantwortet eine abstruse Regie das Werk derart der Unglaubwürdigkeit, dass man am Verstand der ganzen Gattung Oper zu zweifeln beginnt.

Trotz großartiger musikalischer Leistungen (ein hinreißender Gustavo III.: Piotr Beczala, und ein absoluter Verdi-Souverän am Dirigentenpult: Nello Santi) ein verkorkster Opernabend! Und das beim „Maskenball“, der am 27. September 1942 im Deutschen Opernhaus Berlin mein zweiter Opernabend überhaupt war, und dessen Autogramm von Karl Schmitt-Walter als Renato noch heute mein Archiv bewahrt).

Vierundzwanzig Stunden später an gleicher Stelle die dritte Vorstellung der Neuinszenierung von Arnold Schönbergs „Moses und Aron“, der hier 1957 seine szenische Uraufführung erlebt hatte. Und das zwei Spielzeiten nach Rossinis „Mosè in Egitto“ am gleichen Haus! Welch ein Geniestreich operndramaturgischer Planung (in der nächsten Saison steht hier übrigens ein ähnlicher dramaturgischer Coup bevor: die Einstudierungen von Rossinis „Otello ossia Il moro di Venezia“ und Verdis „Otello“). Ein weiterer Beweis für Alexander Pereiras intelligente Spielplangestaltung während seiner letzten beiden Jahre als Direktor des Zürcher Opernhauses! Und dies nun ein Triumph des modernen Operntheaters! In glänzender Übereinstimmung von Werk (Schönberg), musikalischer Leitung (Christoph von Dohnányi), Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und Lichtgestaltung (Achim Freyer). Eine moderne Musiktheaterproduktion aus dem Geiste Grünewaldscher apokalyptischer Visionen (und als solche schon Vorwegnahme der letzten Pereira-Premiere im Juni 2012 mit Hindemiths „Mathis der Maler“).

Ich muss gestehen, dass ich der Aufführung mit beträchtlicher Skepsis entgegengesehen hatte. In all den Freyer-Inszenierungen seit seiner Glass-Trilogie in Stuttgart (auch bei seinem „Messias“ in Berlin und seiner „h-moll Messe“ in Schwetzingen) hatte mich die Diskrepanz zwischen seinen bildkünstlerischen Visionen und seinem choreografischen Dilettantismus empfindlich gestört. Und hier hatte ich nun Ähnliches befürchtet, zumal da der Besetzungszettel wohl Mitarbeit Regie, Mitarbeit Bühnenbild, Mitarbeit Kostüme, Mitarbeit Dramaturgie ankündigte, aber auf eine Mitarbeit Choreografie ausdrücklich verzichtete. Und das bei einem Werk, in dessen Mittelpunkt der Tanz und die Orgie um das Goldene Kalb stehen. Nun hat sich zwar Schönberg selbst gegen das „landesübliche Ballettgehüpfe“ gewandt – aber die Aussicht auf die Freyersche übliche Ballettstatuarik schien mir nicht weniger problematisch. Indessen kann von Ballett in dieser Produktion überhaupt nicht die Rede sein. Auch nicht von Tanz. Man merkt überhaupt nicht, wo die Regie in Tanz übergeht. So sehr sind die Aktionen der Jungfrauen in die Regie integriert, dass sie gar nicht separiert wahrgenommen werden. Zumal da die Aufmerksamkeit des Publikums von der Interpretation des Tanzes als Ritual des Konsumfetischismus um den Goldenen Osterhasen der Schokoladenfirma Lindt und der Parade der Disneyschen Stofftiere in Anspruch genommen wird, dass man überhaupt nicht auf die Idee eines Lustmords an den tanzenden Jungfrauen kommt. Ich muss allerdings gestehen, dass mir diese Verpoppisierung der Originalvorlage einige Skrupel verursachte, aber schließlich kapitulierte auch ich vor dem Geniestreich dieser Aktualisierung. Alles in allem war dies von dem runden halben Dutzend „Moses und Aron“-Produktionen, die ich gesehen habe, die visionärste – vor allem aber auch die musikalischste, die mich eigentlich zum ersten Mal die überwältigende Fülle der musikalischen Schönheiten der Partitur voll erleben ließ.

 

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