Versuch einer sehr persönlichen Spielzeitbilanz 2010/11

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Stuttgart, 27/07/2011

Beste Klassikerproduktion: Nach 35 Jahren noch immer John Neumeiers „Illusionen wie Schwanensee“ (neu in München). Top-Ereignis: 50 Jahre Stuttgarter Ballett. Die gewichtigste Uraufführung der Saison: Fehlanzeige aus meiner Perspektive – weil ich Schläpfers „Deutsches Requiem“ nicht gesehen habe? Die Androhung einer abermaligen Konfrontation mit der Kostümbildnerin Catherine Voeffray und ihren Geschmacklosigkeiten ließ mich Abstand von einem Besuch der Vorstellung nehmen. Zumal im Hinblick auf die vergleichsweise mustergültige Design-Ästhetik des Hauses à la Keso Dekker und Gert Weigelt.

Erfreulichste Entwicklung einer Kompanie: Gauthier Dance. Meistversprechende Karriere eines Juniorchoreografen: Demi Volpi, Stuttgarter Ballett. Klügste Buchproduktion: Jennifer Homans „Apollo‘s Angels“ – trotz fragwürdigem Schluss. Auffallendstes Phänomen: die Häufung der Tanzfilmproduktionen (Bruce Beresfords „Maos letzter Tänzer“, Frederick Wisemans „La Danse“, Darren Aronofskys „Black Swan“ und Wim Wenders‘ „Pina“). Nachhaltigste Qualifizierung: die Kompanien von – in alphabetischer Reihenfolge – Düsseldorf, Hamburg, München, Stuttgart und Zürich. Die beglückendste Vorstellung (die ich gesehen habe): Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ von 1977 bei den Hamburger Ballett-Tagen 2011. Die beste Leistung einer etablierten Tänzerin: die unerschöpfliche Neugier Sylvie Guillems auf die Erarbeitung neuer Erfahrungen. Die beste Leistung eines etablierten Tänzers: Alexandre Riabko an aufeinanderfolgenden Abenden als Puck im Hamburger „Sommernachtstraum“ und als Creator spiritus in „Purgatorio“. Die meistversprechenden Nachwuchstänzer: Elisa Badenes und Daniel Camargo, Stuttgarter Ballett.

Beste TV-Produktion: „Wayne McGregor – Getanzte Gedanken“, Arte 27.6.2011. Die klügste Ballettkritik der Saison: Annette Bopps informative „Landschaften zweier Seelen“ über John Neumeiers „Purgatorio“ im tanznetz. Die stetigste überraschende Entwicklung: der kontinuierliche Zustrom hochtalentierter junger Männer von der Staatlichen armenischen Ballettschule in Jerewan. Außerdem positiv: Der attraktive Neu- und Erweiterungsbau der Staatlichen Ballettschule Berlin. Dank und Ehrung … für über dreißig Jahre unermüdlicher Pionierarbeit in der sogenannten Provinz für Bernd Schindowski in Gelsenkirchen – der längst mit dem Deutschen Tanzpreis hätte ausgezeichnet werden sollen.

Das traurigste Ereignis der Spielzeit: Der Tod von Jochen Schmidt am 10. Oktober 2010 und der damit verbundene Verlust eines der profiliertesten Kritikers der deutschen Szene. Und als Negativa: Die überflüssigste neue Produktion der Saison: „La Esmeralda“ beim Staatsballett Berlin und dessen Sammelsuriums-Repertoire statt Profilierung einer eigenständigen Berliner Identität. Die parteiische Berichterstattungspolitik der FAZ mit ihrer Bevorzugung der Paul-Chalmer-Produktionen (wo auch immer) und von Karlsruhe – hingegen ihr Ignorieren der Bigonzetti-Uraufführungen (wo auch immer) und die offenkundige Aversion gegen Stuttgart sowie ihr Anspruch auf alleinige Deutungshoheit. Das hinhaltende Gezerre um den Neubau der Stuttgarter Cranko-Schule Die beharrliche Verweigerung der Einrichtung einer Cranko-Stiftung durch den Alleinerben (selbst im 50. Jubiläumsjahr). Und was ist mit den Tantiemen geschehen, die in den 39 Jahren seit Crankos Tod für die Aufführung seiner Ballette aus aller Welt an den Alleinerben geflossen sind? Der Verzicht auf eine ausführliche Dokumentation der Spielzeit im Jahrbuch der Zeitschrift „tanz“.

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