koeglernews 16

Von Engeln, Teufeln und anderen tanzenden Ungeheuern

oe
Stuttgart, 07/06/2011

Lange keine koeglernews mehr erschienen! Nicht etwa, dass es in der koeglerwelt in den letzten Monaten keine News gegeben hätte! Allein die Filme sorgten schon für gehörigen Diskussionsstoff: der französische „La Danse“, der amerikanische „Black Swan“ und der deutsche „Pina“… Dann die Aufregung um Neumeiers Hamburger Junioren-Kompanie. In der FAZ konnten wir sogar etwas über einen neuen „Schwanensee“ in Berlusconi-Landen lesen – nichts allerdings von der Bigonzetti-„Sacre“-Uraufführung in Baden-Baden und nichts über seine „Piaf“ in Hannover (aber ja auch nichts über „Esmeralda“ in Berlin). Die trifft eben ihre Auswahl nach ganz persönlichen Kriterien (wovon ja auch Stuttgart ein Lied zu singen weiß). Ob es dort wohl demnächst auch ein Bahnhofs-21-Ballett geben wird? Aber dazu müsste Reid Anderson schon Johann Kresnik als Gastchoreografen einladen).

Doch im Ernst: Lange, sehr lange beschäftigt gewesen mit einem Buch, das in Amerika derzeit für Furore sorgt: Jennifer Homans „Apollo‘s Angels – A History of Ballet“, ein Wälzer von immerhin 643 Seiten. Mir war die Dame bisher unbekannt. Sie war eine professionelle Tänzerin und ist Kritikerin der „New Republic“ – ohne Zweifel eine gescheite, intelligente, gebildete, metiererfahrene, glänzende Schreiberin. Als Historikerin ist sie hors concours. Ich kenne jedenfalls keine Ballettgeschichte, die so detailliert, so anschaulich, so zeitbezogen den Verlauf der Entwicklung des Balletts von seinen Anfängen in Italien über das französische Ballet de cour, das Ballett der Aufklärung und der Romantik, das dänische Ballett unter Bournonville, den Niedergang des italienischen Balletts unter Manzotti, den Aufstieg des russischen Balletts von Didelot über Petipa bis zu Diaghilew und darüber hinaus bis zu den ‚dram ballets‘ der Sowjets, den Siegeszug des englischen Balletts in der Diaghilew-Nachfolge unter der Valois und Rambert nebst Ashton und Tudor sowie den Triumph des amerikanischen Balletts unter Balanchine und Robbins beschreibt, wie es diese Lady tut, die gegenwärtig Distinguished Scholar in Residence der New York University ist.

Stutzig machte mich lediglich der Titel: „Apollos Engel“. Gerät hier nicht etwas durcheinander? Apollo, der griechische Gott der Musen – „Apollon Musagète“ – und die Engel als Geisteswesen die Abgesandten der monotheistischen und abrahamitischen Religionen des Judentums, Christentums und Islams – wie geht das zusammen? Doch für Miss Homans sind die Engel Tänzer einer orthodoxen Kunstreligion, und ihr Gott heißt Balanchine. Und mit Balanchine (und seinen Nebengöttern Petipa, Ashton, Tudor und Robbins) ist das Ballett laut Homans an seinem Ende angelangt. Der es in den Abgrund geführt hat, ist Kenneth MacMillan – er eher ein Engel in Teufels Gestalt! Van Manen, Forsythe, Wheeldon, Ratmansky existieren für sie nicht. Und so hört die Ballettgeschichte praktisch für sie auf der 440. von 550 Seiten auf (denn der Rest sind Apparat, Notes, Bibliography und Index). Allerdings: die 440 haben es in sich. Ich zumindest habe ungeheuer viel Neues erfahren und dazu gelernt!

Das lässt Raum nur noch für ein paar kurze Hinweise. Auf den bei Henschel erschienenen monumentalen Band „Tanztechniken 2010 – Tanzplan Deutschland“, herausgegeben von Ingo Diehl und Friederike Lampert bei Henschel (319 Seiten, 2 DVDs) – da geht es um die verschiedenen Techniken: „Humphrey/Limón-Tradition“, „Counter-Technik“, „Jooss-Leeder-Technik“ „Cunningham Technik“, „Minding Motion“, „Jennifer Muller Technik“ und „Release- und Alignment-Orientierte Technik“. Vermisst habe ich ein eigenes Kapitel über die Graham-Technik – aber vielleicht taucht die ja in irgendeinem anderen Zusammenhang auf (und ich werde mich hüten, zu behaupten, die über dreihundert eng bedruckten Seiten alle gelesen zu haben).

Schließlich noch der Verweis auf den Band „Erinnerungen an José de Udaeta“, gesammelt und herausgegeben von Rita Schneider im Ulrich Steiner Verlag, Bergisch-Gladbach, 167 Seiten, zahlreiche Fotos). Da ist nun von Brita Adam bis Tomás Zybura so ziemlich jede und jeder vertreten, die oder der sich jemals über José geäußert hat, schön alphabetisch geordnet, mit den Braig-Witzels als Stuttgarter Dependance, und das ergibt ein kunterbuntes Mosaik dieses spanischen Granden (der freilich so gar nichts von einem „Granden“ an sich hatte). Nur eine habe ich vermisst, die doch zumindest in den Anfangsjahren der deutschen Karriere von José überall dabei war – aber dann taucht ihr Name doch noch auf Seite 154 auf, Ursula Knaflewski, „seine Assistentin aus Köln“).

Ein Hymnus auf Friedemann Vogel ist in der Winter 2010-11 Ausgabe der amerikanischen Ballet Review erschienen: und da haben wir ihn wieder, einen Abgesandten aus der „Engels“-Familie von Jennifer Homans: „When Friedemann Vogel walks into class in Studio A in Stuttgart … it‘s as if an angel stands at the barre. When he begins the deep pliés of an exercise his body expresses sheer joy …” Und so fort – über seine Erfahrungen an der John-Cranko-Schule, in Monaco, im Umgang mit Reid Anderson, in Toronto, als Romeo … Vogel: „I want to take the audience with me into another world, to help them explore the passion of the music and the dance. Mostly I want them to live the story with me … With ‚Orlando‘ it‘s such a positive happy ending. You feel your soul set free. For me that‘s what dance is really all about.“

Und zum Schluss noch ein Hinweis auf zwei Klassiker-Produktionen Alexei Ratmanskys, des ehemaligen Bolschoi-Chefs, der inzwischen Resident Choreographer beim American Ballet Theatre ist: seine noch aus Bolschoi-Zeiten stammende neue Version von Wainonens 1932 uraufgeführten „Flammen von Paris“, dem sowjetischen Klassiker über die Französische Revolution von 1789, mit der Musik von Boris Asafiev, in der Moskauer Einstudierung von 2010, mit den Bolschoi-Stars Natalia Osipova und Ivan Vasiliev (auf BelAir BAC 062), und sein „Don Quichot“ nach Petipa und Gorsky mit zusätzlicher Choreografie von Ratmansky, in der Einstudierung, die er 2010 beim Holländischen Nationalballett (mit den Solisten der Kompanie ) produziert hat (auf Arthaus Musik 101 561). Beide Einstudierungen sind als DVDs in den einschlägigen westlichen Zeitschriften geradezu enthusiastisch aufgenommen worden, während ich gestehen muss, von beiden ziemlich enttäuscht worden zu sein (trotz der Moskauer Superstars Osipova und Vasiliev, die für mich an meine Traumbesetzung einer früheren Bolschoi-Produktion von „Don Q“ mit Maximowa und Wassiljew heranreichen).

Die Moskauer-Einstudierungen von Schostakowitsch-Balletten aus Ratmanskys Zeit beim Bolschoi-Ballett, die Arte gesendet hat, waren für mich eine Hoffnung gewesen, dass es ihm gelingen könnte, das russische Ballett aus seiner sowjetischen Zwangsherrschaft zu befreien und zu einer neuen Blüte zu führen. Diese Hoffnungen sind für mich durch seine Arbeiten der jüngsten Vergangenheit nicht bestätigt worden – im Gegenteil: ich habe das Gefühl, dass er von seiner Ausbildung her mit der Ideologie des ‚dram ballet‘ so infiziert worden ist, dass er bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber den westlichen Errungenschaften sich nicht wirklich davon hat befreien können (ebenso wenig übrigens wie Grigorowitsch oder Malakhov und der unsägliche Yuri Burlaka – das ist der Choreograf der „Esmeralda“ beim Moskauer Bolschoi und beim Staatsballett Berlin). Ich wüsste gern, was Neumeier von Ratmansky hält – und noch lieber wüsste ich, was er mit Filin, dem neuen Bolschoi-Chef plant. Aber die eventuelle Realisierung ihrer Pläne werde ich wohl nicht mehr erleben. What a pity!

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