Ein Händel, der nicht nur beschwipst, sondern geradezu besoffen macht
„Alcina“ als Wiederaufnahme der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito
Hier ist wieder einmal die Warnung angebracht: dies ist keine Kritik, sondern ein Journal – also eine Art Tagebuch-Aufzeichnung. Und schon gar nicht handelt es sich um eine Ballettkritik, denn das Ballett kommt in dieser Produktion überhaupt nicht vor, obgleich Händel sein Dramma per musica in tre atti 1735 für das Londoner Covent Garden Theatre ausdrücklich als Ballettoper mit der Beteiligung der französischen Truppe von Marie Sallé schrieb, und deren Partitur eine Unzahl von Tänzen aller damaligen Art enthält (besonders in der von Händel später vorgenommenen Bearbeitung). Die sind in der Stuttgarter Version durchweg gestrichen. In Stuttgart handelt es sich um die Wiederaufnahme der Inszenierung von 1998. Sie stammt von Jossi Wieler und Sergio Morabito (samt Anna Viebrock als Designerin der Ausstattung, einschließlich der fast wie für eine heutige Modenschau entworfenen Kleider). Sie bekam damals geradezu enthusiastische Kritiken (auch von einem gewissen oe in der „Opernwelt“) und wurde dann von den englischen Kollegen beim Gastspiel in Edinburgh als „barbarischer Vandalismus“ überwiegend in Grund und Boden verrissen.
Nun also die Wiederbegegnung vor einem mäßig besuchten, am Schluss mit kaum enden wollendem Beifall bedachten Haus – in fast vollständiger neuer Besetzung. Von dieser Spielzeit an ist Jossi Wieler mit Sergio Morabito als seinem dramaturgischen Adlatus Intendant der „Oper Stuttgart“, die früher als Teil der Württembergischen Staatstheater fungierte. Es war für mich die erste Stuttgarter Vorstellung des neuen Regimes – und sie war wie eine Erlösung nach der fünf Spielzeiten währenden künstlerischen Stagnation der aus Basel über Hannover nach Stuttgart verschlagenen Leitung von Albrecht Puhlmann.
Und jetzt muss ich ganz persönlich werden. Ich bin eigentlich ein ausgesprochener Opernfan – seit meinen Tagen als Teenager-Klavierschüler im provinziellen Neuruppin (das liegt in der Nähe von Berlin). Als der spielte ich mit besonderem Vergnügen aus einem Album mit bekannten Opernmelodien – hauptsächlich von Händel (natürlich das Largo aus „Xerxes“), Mozart, Weber, Flotow und Verdi, und sogar die Barcarole aus „Hoffmanns Erzählungen“ von Offenbach, der während jener fernen Nazi-Jahre als Jude verfemt war – während mir Wagner schon damals suspekt erschien (und bis heute geblieben ist: ich bin nach wie vor ein eingefleischter Anti-Wagnerianer). Zu der Zeit wollte ich noch als Nachfolger von Wilhelm Furtwängler Dirigent der Berliner Philharmoniker werden – aber das habe ich nicht ganz geschafft. Zum Ballettfan wurde ich erst 1952 – beim Gastspiel von Balanchine und dem New York City Ballet bei den Berliner Festwochen. Es war die harmonische Verbindung von Musik und Tanz, die mir damals Ohr und Augen öffnete für die klassische Schönheit des Balletts, die seither, also seit 59 Jahren, der Leitstern meines künstlerischen Credos geblieben ist.
Und nun also an diesem Abend eine ausgesprochene Ballettoper – wie so oft heute ohne Ballett. Meine Erwartungen waren so-so. Einerseits hatte ich die Wieler/Morabito-Produktion von der Regie her durchaus positiv in Erinnerung (bis auf das eher einer Müllhalde gleichende Bühnenbild von Anna Viebrock), andererseits verursacht mir die Aussicht auf den Verzicht all dieser herrlichen Menuette, Couranten, Gavotten und Sarabanden doch erhebliches Bauchgrimmen. Zumal nach den stärker ballettaffinen „Alcina“-Inszenierungen inzwischen in Zürich und München (natürlich Beate Vollack). Und dann dies: eine Vorstellung, wie ich sie in den siebzig Jahren, die ich nun ins Theater gehe, noch kaum erlebt habe (jedenfalls kann ich mich an keine erinnern) – die mich nicht nur trunken machte mittels der Musik Händels, sondern regelrecht „besoffen“ – ein Zustand nach einer schlaflosen Nacht, der sogar heute noch anhält, da ich dieses Journal schreibe. Ich war also wie von Sinnen – und bin es heute noch. Und das ist nicht nur Händel zu verdanken, sondern der Stuttgarter Aufführung insgesamt – vor allem aber dem neuen Mann am Dirigentenpult, Sébastian Rouland. Ganz neu ist der noch ziemlich junge Mann in Stuttgart nicht, denn er hat hier immerhin schon Halévys „La Juive“ und die übergeschnappte Bieito-Inszenierung von Händels „Trionfo del tempo e del disinganno“ dirigiert.
Ihm dabei zuzusehen, wie er, quasi ein anderer Bildhauer, die Klänge aus dem Orchester geradezu herausmeißelte, liebevoll formte und in die Luft schrieb, war ein Tanz der Gesten, der ein ganzes Corps ersetzte. Sozusagen ein Souffleur der Gesten, mit denen er den Sängern auf der Bühne ihre Motionen vorgab. Und die bewegten sich nicht wie konventionelle, ihre Hände pantomimisch ringende Sänger, sondern wie sexy Models, auf einem imaginären Händel-Laufsteg (mit allerdings viel Händespiel und etwas reichlich strapazierten Schuh-Ritualen), die die ganze Zeit, also eben auch die Vor-, Zwischen- und Nachspiele modellierten, was die ganze Aufführung wie eine erotische Komödie abrollen ließ. Mit ausgesprochen individuell geformten Charakteren, die rechtmäßig alle auch einzeln gewürdigt werden müssten, die ich hier (Ausrede: Journal – nicht Kritik) nur als Ensemble namentlich auflisten kann: Myrtú Papatanascu als Alcina, Sophie Marilley als Ruggiero, Ana Durlovski als Morgana, Marina Prudenskaja als Bradamante, Stanley Jackson als Oronte, Michael Ebbecke (der einzige Übriggebliebene aus der ersten Inszenierung) als Melisso, Diana Haller als Oberto und Siegfried Laukner als Astolfo. Welch ein Ensemble, welch eine Aufführung, welch ein Händel! Wie gesagt (und ich bitte um Entschuldigung): ein Händel, der geradezu besoffen macht!
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