Deutscher Geschichtsunterricht à la française

Laure Guilbert und ihr Standardwerk „Danser avec le IIIe Reich“

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Stuttgart, 04/08/2011

Eigentlich wollte ich ja nach der Bilanz der Spielzeit 2010/11 Pause bis zum Beginn der neuen Spielzeit mit der Zürcher Premiere (Balanchine, Kylián, Forsythe und Spoerli) am 2. September machen. Aber dann kam mir eine Dame aus Frankreich dazwischen, und die Begegnung mit ihr finde ich so aufregend, dass sie mich zu einem eingeschobenen kj veranlasst (wie wenn der Deutsche Bundestag während der Sommerferien zu einer Sondersitzung einberufen würde). Es handelt sich um die mir bis dahin total unbekannte Lady Laure Guilbert. Sie schrieb mir erst eine E-mail (Gottseidank in makellosem Deutsch, denn um mein Französisch ist es ziemlich miserabel bestellt), in der sie mich um Auskunft über meine Recherchen zur Geschichte des deutschen Tanzes während der Weimarer Republik und zur Nazi-Zeit bat. Ich antwortete ihr, dass das alles so lange zurückläge, dass ich mich kaum noch daran erinnerte. Aber sie ließ nicht locker, rief mich an und wollte ein Telefoninterview mit mir machen. Ich hasse jedoch Telefoninterviews, sagte ihr das auch und forderte sie auf, dass sie, wenn Sie mich denn schon ausquetschen wollte, zu einem Besuch nach Stuttgart kommen sollte – warnte sie indessen, dass ich inzwischen uralt und mein Erinnerungsvermögen sehr senil sei, so dass ich überhaupt nicht garantieren könne, noch am Leben zu sein, wenn sie denn eines Tages wirklich nach Stuttgart käme.

Sie blieb hartnäckig, erkundigte sich vor dem letzten Wochenende, ob ich denn noch am Leben sei und bestätigte ihren Entschluss, mich in Stuttgart heimzusuchen. Was sie denn auch tat. Und so tauchte sie hier auf und wir hatten zwei lange Sitzungen, in denen sie aus mir herausholte, was ich alles schon längst vergessen wähnte. Es stellte sich heraus, dass sie Doktorin der Geschichtswissenschaft ist, aus Lille stammte, dort auch frühen Tanzunterricht hatte, dann in Florenz an der Europa-Universität politische Geschichte studiert hat, anschließend auch in Paris am Institut d‘études politiques und 1996 mit einer Doktorarbeit über den/die Danse macabre während der Weimarer Republik und der Nazizeit abgeschlossen hatte. Auf dieses spezifisch deutsche Thema war sie gestoßen, als sie in Paris Karin Waehner kennen gelernt hatte, eine Schülerin von Mary Wigman, die seit 1953 eine eigene Schule für modernen Tanz in Paris unterhielt. Von dieser französischen Doktorarbeit, für die sie umfangreiche Recherchen betrieben hatte, existiert eine Kopie im deutschen Tanzarchiv in Köln. Die erschien dann überarbeitet und in gekürzter Form als Taschenbuch in der Librairie de la Danse im belgischen Verlag der Editions Complexe im Jahr 2000 unter dem Titel „Danser avec le IIIe Reich – Les danseurs modernes sous le nazisme“ (ISBN 2-87027-697-4) und wird demnächst in zweiter Auflage herauskommen.

Ich erfuhr dann, dass sie inzwischen 45 Jahre alt und seit über zehn Jahren Redakteurin der Ballettprogrammhefte der Pariser Opéra ist. Sie spricht fließend Deutsch und hatte mir das Taschenbuch mitgebracht, in dem ich mit meinen sehr limitierten Französischkenntnissen zu blättern und zu surfen begann (und als Erstes natürlich nachschlug, ob im Inhaltsverzeichnis ein gewisser Koegler genannt war – was tatsächlich der Fall ist!). So fest las ich mich darin, dass ich den ganzen Abend zwischen unseren zwei Sitzungen damit verbrachte. Wobei mir förmlich die Augen übergingen, weil all die Ereignisse und Persönlichkeiten wiederauftauchten, über die ich vor einem halben Jahrhundert geschrieben hatte, zuerst in den Chroniken der damaligen Friedrich-Ballettjahrbücher, und dann im Heft 57 der amerikanischen Dance Perspectives im Spring 1974 unter dem Titel „In the Shadow of the Swastika – Dance in Germany, 1927-1936“. Ich traute meinen Augen nicht, denn hier war nun wissenschaftlich aufbereitet, was ich journalistisch kommentiert hatte. In einer Detail- und Informationsfülle – und dazu noch in einer so klaren Sprache, dass ich mit meinen minimalen Französischkenntnissen ohne sonderliche Mühe mich durch die 448 Seiten des Taschenbuchs arbeiten konnte. Ich fand das so aufregend, dass ich in der Nacht kaum schlafen konnte und zu träumen begann – von Enkelmann, dem Fotografen (der mich zum Tanz brachte, denn bis dahin war ich ausschließlich opernorientiert), von Wigman, Hoyer, Kreutzberg, Gsovsky und Blank und all den anderen, denen ich im Berlin der fünfziger Jahre begegnet bin – und vor allem von Balanchine und dem New York City Ballet, die mir bei ihren Gastspielen in Berlin die Augen und Ohren geöffnet hatten für das, was Ballett in seiner Vollendung sein konnte (und für mich bis heute – sechzig Jahre danach – geblieben ist).

Das Buch von Laure Guilbert ist die vollständigste Geschichte des modernen Tanzes in Deutschland, von den Anfängen, von Ludwig Klages, Rudolf Bode, Rudolf von Laban und Mary Wigman an, vom Monte Verità und Dresden, und von den Persönlichkeiten, die dann fast alle als Idealisten und Utopisten sich von den rattenfängerischen Parolen der Nazis haben vereinnahmen lassen und in das Chaos der nazistischen Heilsversprechen hineingeschlittert sind. Eine vergleichbare deutsche Aufarbeitung dieser Zeit ist mir nicht bekannt – nicht meine eigenen kümmerlichen Recherchen und auch nicht „Tanz unterm Hakenkreuz“, mein eingedeutschter amerikanischer Titel, von Lilian Karina und Marion Kant. So dass ich mir nichts sehnlicher wünsche als eine deutsche Ausgabe dieses französischen Standardwerkes. Und bei dieser Gelegenheit wieder einmal dringend daran erinnern möchte, dass uns eine umfassende Geschichte des Tanzes in der DDR fehlt – wie denn überhaupt eine Geschichte des deutschen Tanzes nach 1945. Aber das ist eine andere Geschichte, die uns die allenthalben inzwischen aus dem Boden geschossenen tanzwissenschaftlichen Institute an den verschiedenen Universitäten und Akademien bisher schuldig geblieben sind (ein Auftrag für die nach wie vor nicht existierende Cranko-Stiftung?).

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