koeglernews 15

Zwei Prachtbände – und auch sonst allerlei nützliche Lektüre

oe
Stuttgart, 31/12/2010

Ein einzigartiges Lesevergnügen bereitet das Begleitbuch zur Ausstellung „Diaghilev and The Golden Age of the Ballets Russes 1909-1929“ des Londoner Victoria & Albert Museums (V & A Publishing, www.vandabooks.com, 240 Seiten, zahlreiche Farb- und Schwarzweiß-Abbildungen, 35.-/28.- £, über Amazon erhältlich zu 36,95 €). Es zieht gleichsam die Summe all der Ausstellungen, die anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Diaghilew-Kompanie in der ganzen Welt stattgefunden haben und bietet selbst für Leute, die meinen, gut über Diaghilew und seine Zeit Bescheid zu wissen, eine Unmenge neuer und neuester Fakten bis hin zur gerade erschienenen Biografie von Scheijen (der auch den Essay „Diaghilev the Man“ beigesteuert hat) und den drei Hauptbeiträgen der Ausstellungskuratorin Jane Pritchard („The Transformation of Ballet“, „Creating Productions“ und „A Giant that Continues to Grow – The Impact, Influence and Legacy of the The Ballets Russes“).

Die acht Essays von ausgewiesenen Spezialisten (darunter Howard Goodalls „Music and the Ballets Russes“ – mit einer total neuen Sichtweise der Komponisten und ihrer Beiträge für Diaghilew) werden von kleineren Beiträgen (à la „Mir Iskusstva“, „Diaghilev‘s Boys“, „Diaghilev and Chanel“, „The Pleasure of his Company“ über die Parties und „Diaghilev‘s Death“) begleitet. Vor allem aber bereiten die üppigen ganz- und doppelseitigen Farbabbildungen geradezu ein Fest für die Augen, die heute noch nachempfinden lassen, was für ein Schock die Aufführungen für die Zeitgenossen jener zwanzig Jahre von 1909 bis 1929 gewesen sein müssen.

Sehr nützlich und sehr zu empfehlen ist die Second Edition des gründlich überarbeiteten „Oxford Dictionary of Dance“ von Debra Craine und Judith Mackrell (502 Seiten, 11.99 £, über Amazon erhältlich zu 14,99 €), up to date bis zum Amtsantritt von Manuel Legris in Wien. Sehr dienlich ist der Verweis auf über hundert Websites zu den einzelnen Artikeln. Wie rezensiert man ein solches Lexikon (zumal wenn man selbst, lang ist es her, eins geschrieben hat)?

Man schlägt aufs Geratewohl darin nach, gerät von einem Stichwort ans nächste, kann nicht aufhören, notiert die Auslassungen (zum Beispiel die Engländer G.B.L. Wilson, einer der Lexikon-Pioniere, die Kuratorin Jane Pritchard s.o., und Robert Tewsley – von den bei uns arbeitenden internationalen Kapazitäten vermisse ich Martin Schläpfer, aber Friedemann Vogel ist drin, und auch sonst können wir uns nicht beklagen, sogar Kresnik ist vertreten und Susanne Linke) und Fehler (ein Großteil der Stuttgarter Tänzer mit falschen Namensschreibweisen bis zu Marco Goeck und Katje Wünze) und zum Beispiel unterlassene, längst überfällige Korrekturen (Spoerli, der 1940 geboren ist und nicht 1941). Im Allgemeinen sind die Angaben aber durchaus zuverlässig und die Charakterisierungen der einzelnen Tänzer und Choreografen so knapp wie pointiert. Ich bin froh, jetzt so leicht zugänglich etwa die Daten und Titel von Cherkaoui, Preljocaj, Tharp, Forsythe, Guillem und sogar Spuck verfügbar zu haben.

Und dann das schwerste Buch meiner Bibliothek – schwerer noch als Neumeiers rote Bibel, das ist Rosalies „Lichtkunst – light art, the universal theater of light“ – deutsch-englisch, erschienen bei Scheidegger & Spiess, herausgegeben von Peter Weibel zusammen mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, 447 Seiten mit einer DVD zu 69 €. Ein Prachtband, lauter Farbseiten, die meisten sogar als Doppelseiten, das Layout von einer so großzügigen Eleganz, dass selbst der hier angezeigte Diaghilew-Band aus London daneben fast kleinkariert scheint. Ein Band zum Verlieben, in dem man gar nicht aufhören mag zu blättern.

Auch Rosalies Design zu Morton Feldmans und Martin Schläpfers Düsseldorfer „neither“-Produktion ist unter den zahlreichen Arbeiten vertreten, die Rosalie fürs Theater geschaffen hat – wie selbstverständlich auch die lang anhaltende Zusammenarbeit mit Uwe Scholz am Anfang ihrer beiden Karrieren. Blättert man die Seiten durch, erscheinen einem die vielgestaltigen Lichtbahnen wie die Arterien eines gewaltigen Theater-Corpus: Herzbahnen eines theatrum mundum. Diaghilew hätte sicher Rosalie auf der Stelle engagiert! Schließlich noch der Verweis auf drei Beiträge in der Festschrift „Die Zukunft der Oper – Die Oper der Zukunft“, erschienen zum fünfzigjährigen Jubiläum der Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper, 193 Seiten, 28.- €, erhältlich im Shop der Staatsoper. Es handelt sich um die drei Essays „Überblendungen“ von Gunhild Oberzaucher-Schüller (über das Werk Marius Petipas im Schaffen von John Neumeier), „Mehr Walzer wagen!“ von Dorion Weickmann (über „Wie Bühnen- und Gesellschaftstanz einander aus den Augen verloren“) und „Leben auf Spitze“ von Heather Jurgensen (über „Vom Tanzen und der Fortsetzung der Bewegung danach“) – alle drei gleich lesenswert.

Und da wir nun einmal bei den Büchern sind ein nochmaliger Hinweis auf die Neuausgabe von Jean Georges Noverres „Briefe über die Tanzkunst“, neu ediert und kommentiert von Ralf Stabel, 254 Seiten, erschienen bei Henschel in Leipzig/Berlin zu 19.90 €. Man kommt bei Stabel und dem Tempo, das er bei der Veröffentlichung immer neuer Bücher vorlegt, ja kaum noch mit. Vielleicht können wir ja bald von seinen Gesammelten Werken sprechen und uns dann an den einzelnen Bänden orientieren, doch im Ernst: dies ist eine gut lesbare Ausgabe des Standardklassikers der Ballettliteratur, der viel zitiert, aber wegen seiner verzopften Sprache heute kaum gelesen wird. Dem hat Stabel nun also Abhilfe geschaffen, vor allem indem er Noverres „maître de ballet“ durch den Choreografen ersetzt hat – und nicht zuletzt durch seinen gründlichen Kommentar, der dem Erbe Noverres bis zu Cunningham und Bausch nachgeht und zudem eine vorzügliche Dokumentation liefert.

Schließlich wieder mal ein Hinweis auf das vorzügliche amerikanische Dance Chronicle, ein Quaterly, und zwar auf Volume 33, Number 3 von 2010. Dort findet sich auf den Seiten 460 bis 465 ein Artikel, dessen Wichtigkeit nicht zu überschätzen ist: „Beyond the Veil: Giselle Revealed“, eine Buchbesprechung von Marian Smith über das von Frank-Manuel Peter redigierte Faksimile der Notation von Henri Justamant aus den 1860er Jahren. Die hätte ich eigentlich gern in einem unserer deutschsprachigen Journale gelesen – aber dazu fehlt es bei uns wohl an Tanzwissenschaftlern (die gibt es allenfalls in Wien und in der Washingtoner Dependance von Wien – wie in der gleichen Ausgabe die Rezension von George Jackson belegt über „Dance and the City – Interwar Vienna, Culture Between Tradition and Modernity“, edited by Deborah Holmes and Lisa Silverman, und „The Ballet Collaborations of Richard Strauss“ by Wayne Heisler, Jr.).

Doch im Ernst: ich halte es für einen ziemlichen Skandal, dass das von Frank-Manuel Peter in Köln herausgegebene Faksimile der „Giselle“-Notation aus den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Paris so gar kein nennenswertes publizistisches Echo gehabt hat. Dabei wäre es wert gewesen, auf einem eigenen Symposium diskutiert zu werden – besonders im Hinblick auf die spätere Petipa-Bearbeitung in St. Petersburg. Da haben wir nun in Berlin zwei Universitäten und eine Hochschule mit promovierten Tanzdoktoren nebst Master- und Bachelor-Studiengängen, aber eine Publikation von dieser Wichtigkeit wird von ihnen schlicht ignoriert. Wie gesagt: ein Skandal! Zum Schluss noch zwei hübsche Pointen: irgendwo in der englischen Dancing Times habe ich neulich (ich hab‘s leider nicht notiert, wann) über Marco Goecke als dem „wild boy of German ballet“ gelesen und im Dezember-Heft des amerikanischen Dance Magazine in einem Artikel über Antony Tudor: „In class, Tudor called Pina Bausch ‚Adolph‘- and he liked her!“ In diesem Sinne: Happy New Year!

Kommentare

Noch keine Beiträge