Große Oper, abgespeckt

Gioachino Rossinis „Guillaume Tell“ mit amputiertem Ballett

oe
Zürich, 13/11/2010

Aufführungen von Rossinis „Guillaume Tell“, frei nach Schiller, sind selten: die musikalischen, sängerischen und szenischen Anforderungen sind horrend. Ungekürzt dauert das Melodrame tragique en quatre actes, uraufgeführt 1829 an der Pariser Opéra, über sieben Stunden. Rossini selbst hat es nie vollständig erlebt. Es begründete recht eigentlich die spezifische Gattung der Grand Opéra mit Chören und großem Ballett, in der Meyerbeer dann seine Triumphe feierte. Es muss also gekürzt werden – darum kommt niemand herum. Aber wie? Meist fallen die beiden ausladenden Ballett-Einlagen der Schere zum Opfer, die insgesamt ungefähr eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Die letzte repräsentative Produktion mit Ballett habe ich an der Wiener Staatsoper gesehen, inszeniert von David Pountney, choreografiert von Renato Zanella. Auch an der Mailänder Scala gab es anlässlich der Wiedereröffnung des renovierten Hauses einen „kompletten“ (italienischen) „Guglielmo Tell“ in der Regie von Pier Luigi Pizzi, mit Balletten von Heinz Spoerli. Und nun also am Opernhaus Zürich, in der vorletzten Spielzeit der Ära Pereira (der bekanntlich 2012 als Leiter der Festspiele nach Salzburg übersiedelt).

Pereira gehört zu den wenigen für das Ballett aufgeschlossenen Opernintendanten – und längst hat sich das Zürcher Ballett unter Spoerli in die erste Liga unserer Opernballette katapultiert (noch vor Wien). Und da Spoerli ja die musikalisch sehr reizvolle komplette Ballettmusik für die Aufführung an der Scala choreografiert hatte, hatte ich natürlich gehofft, dass er es auch in Zürich tun würde. Mitnichten! Denn der in Zürich inszenierende Adrian Marthaler (das ist der Fernseh-Bruder des berühmten Opernregisseurs) hat auf die Mitwirkung des Balletts total verzichtet. What a pity! Und so braucht er sich nicht zu wundern, wenn ich an dieser Stelle auf eine Beschreibung seiner banalen Inszenierung, die das Werk auf einer Aussichtsplattform des Rütli mit heutigen Touristen platziert, verzichte. Denn zu einer Grand Opéra gehört nun einmal das Ballett. Aber unsere progressiven Opernregisseure und unsere prosperierenden großen Opernballettkompanien sind sich zu fein, um an Opernproduktionen mitzuwirken – es sei denn, es handele sich um Glucks „Orpheus und Eurydike“ (wie zuletzt bei Christian Spuck in Stuttgart).

Wenn früher die Ballett-„Einlagen“ in Operettenaufführungen meist den Höhepunkt bildeten, so dürfen heutzutage meist die Eleven aus den Schulen heran, wenn denn schon unbedingt getanzt werden muss – es sei denn, ein Jungspunt wie der unsägliche Tilman Knabe hatte bei der Stuttgarter „Fledermaus“, anno 2000, die geniale Idee, die Tänze von den Amateuren des I.T.C. Ludwigsburg ausführen zu lassen, oder sie wurden, auch nicht viel besser, wie bei der jüngsten Stuttgarter „Fledermaus“ einer Modern-Dance-Lady übertragen, die für die sechs „Ballettratten“ eine Erotik-Show à la „Crazy Horse“ choreografierte.

Es ist ein Jammer! Da haben wir unsere fabelhaften Opernballette, aber für die Ballette in den Opernaufführungen müssen für die hoch gelobten Crossover-Produktionen Extra-Tänzer engagiert werden. Und hatte nicht gerade Zürich bewiesen, wie fabelhaft eine Produktion funktionieren kann, wenn ein theaterversierter Choreograf wie Spoerli mit dem hauseigenen Ensemble daran beteiligt ist – siehe Rameaus „Les Indes galantes“ (inzwischen auch an der Hamburgischen Staatsoper – in Neumeier-Landen – ohne Ballett). Ähnlich erfolgreich operiert sonst offenbar nur noch Mark Morris in Amerika mit seinen Purcell-, Händel- und Rameau-Produktionen.

Schließlich sei daran erinnert, wie Hellerau in den Anfangsjahren des Modern Dance mit seinen choreografischen Gluck-Aufführungen Furore machte (daran anknüpfend auch die choreografischen Pina-Bausch-„Iphigenien“ von Gluck in Wuppertal und Sasha Waltzens Purcell-Oper „Dido und Aeneas“ in Berlin. Wobei ich gestehen muss, der für Mai angekündigten Neuproduktion von Schönbergs „Moses und Aron“ in Zürich in „Inszenierung, Bühne und Kostümen“ von Achim Freyer mit sehr gemischten Gefühlen entgegenzusehen – denn da ist ja wohl die Choreografie (für den „Tanz ums Goldene Kalb“) eingeschlossen, und als Choreograf hat mich Freyer – übrigens auch Robert Wilson (der zumindest in seinen Anfangsjahren wiederholt mit Choreografen à la Lucinda Childs zusammengearbeitet hat) noch nie überzeugt!

 

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