DAS Buch aller Ballettbücher

Akim Volynsky: „Ballet’s Magic Kingdom“

oe
Stuttgart, 21/09/2010

Schon wieder in Versuchung, den Superlativ zu praktizieren! Nachdem ich doch gerade kürzlich erst zum wiederholten Male Robert Gottliebs „Reading Dance“ mit Nachdruck empfohlen habe, den amerikanischen 1270-Seiten-Wälzer als Anthologie der besten englischsprachigen Artikel aus zweieinhalb Jahrhunderten Tanzgeschichte von Bournonville bis Cunningham. Und nun gar DAS Buch aller Ballettbücher – zumindest aus meiner Sicht! Und zwar nicht die gerade herausgekommene Neuausgabe von Jean Noverres „Briefe über die Tanzkunst“ von Ralf Stabel, diesem fleißigsten aller Ballettautoren aus Berlin, erschienen bei Henschel in Leipzig (256 Seiten, ISBN 978-3-89487-632-6, 19,80 €). Sondern Akim Volynskys „Ballet‘s Magic Kingdom“, Edited and translated by Stanley J. Rabinowitz (ISBN 978-0-300-12462-0, 288 Seiten, Yale University Press, New Haven and London 2008, 35 $, bei Amazon für 28,99 € (gebundene Ausgabe) bzw. 18,99 € (Taschenbuch) erhältlich).

Das ist ein merkwürdiges Buch: Selected Writings on Dance in Russia, 1911-1925 – also gerade aus den Jahren, als es in Russland drunter und drüber ging, den Endjahren des Zaren-Regimes und den ersten Jahren der russischen Oktoberrevolution, als man doch meinen sollte, dass die Russen in jenen gut zwei Jahrzehnten alles andere zu tun hatten, als sich mit dem klassischen Ballett zu befassen. Und doch handelt es sich, wie ich meine, um die grundlegende Philosophie, Ästhetik und Analyse des Balletts – des klassischen Balletts wohlbemerkt in der Petipa-Nachfolge, denn dies waren ja auch gerade die Jahre der Diaghilew-Reformen. Eindeutig plädiert Volynsky für das Ballett als reinste Verkörperung einer Ästhetik des Schönen – ganz in der Nachfolge von Eduard Hanslicks Wiener „Vom Musikalisch-Schönen“ (1854).

Der Autor, der russische Kritiker Akim Volynsky, der 1861 in eine orthodoxe jüdische Familie in der Ukraine geboren wurde, und der als Achtzehnjähriger nach St. Petersburg ging, und dort bis zu seinem Tod 1926 als einer der einflussreichsten, wenngleich umstrittensten Kritiker, erst der Literatur und der bildenden Kunst und dann des Balletts wirkte, war ein entschiedener Gegner des neuen Balletts in der Diaghilew-Fokine-Tradition. Wie etwas später Balanchine war er überzeugt: das Ballett ist eine Frau (eigentlich müsste es La Ballet heißen). Und so waren denn seine Göttinnen Pawlowa, Kschessinskaja, Spessiwtzewa, Karsawina und Waganowa. Und die Herkunft des Balletts leitete er nicht etwa von den französischen Akademikern des 17. Jahrhunderts her, sondern aus der griechischen Antike und den Göttern Apollo und Dionysos. Wie sein Herausgeber, der amerikanische Professor Rabinowitz schreibt, proklamierte er in seinen Dutzenden von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln und Büchern seine Überzeugung, „dass der Ballett-Tanz allein den Charakter der hellenischen Vorstellung der plastischen Kunst bewahrte“. Aischylos, die Bibel, da Vinci, Rembrandt, Spinoza, Kant, Schopenhauer und Nietzsche, die Waagrechte und die Senkrechte lieferten die Parameter seines künstlerischen Anspruchs und seiner Lehre als Direktor der von ihm 1917 gegründeten Schule des russischen Balletts.

Das jetzt in Amerika herausgekommene Buch, von Rabinowitz reich mit kommentierenden Fußnoten versehen, gliedert sich in zwei Teile. Deren erster befasst sich mit Reviews und Artikeln über Aufführungen aus dem Repertoire des Mariinsky-Theaters und den großen Tänzerinnen der damaligen Zeit (inklusive Duncan und dem blutjungen Balanchine). Der zweite Teil ist dann dem von ihm 1925 veröffentlichten „Book of Exaltations“ gewidmet und bietet ein ABC des klassischen Ballett-Trainings – praktisch die ganze Grammatik, von den Grundpositionen über die Stange, den Adagio-Motionen au milieu und den Sprüngen nebst einem Anhang über „Male Dancing – Acrobatism, Myth and Fairy Tale, The Soul‘s Reserves, The Ballet Libretto, The Danseur, The Corps de Ballet, Mime“  sowie ein Glossary of Names. Jede Körperhaltung, jeder Schritt, jedes Battement, jeder Sprung ist minutiös beschrieben – wie auch die persönlichen tänzerischen Motionen jeder der ausgewählten Tänzerinnen. Fast wie wenn es sich um eine Obduktion der Anatomie handelt – und doch haben die Beschreibungen nichts Abgestorbenes an sich, sondern sind immer in den Bewegungsfluss eingebunden, so dass man wirklich den Eindruck des jeweils individuellen Bewegungsstils bekommt. Diese Beschreibungen gehen weit über alles hinaus, was uns von den prominentesten Kritikern des Balletts von Gautier bis zu Denby, Buckle und Kirstein überliefert ist.

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