Aus der Ostberliner Perspektive

Ralf Stabels neues Buch „Rote Schuhe für den Sterbenden Schwan“

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Stuttgart, 15/04/2010

Der Mann ist ein Genie des Fleißes: Ralf Stabel, geboren 1965 in Berlin, aufgewachsen in der DDR, promovierter Historiker in Bremen, Publizist, Leiter der Staatlichen Ballettschule in (Ex-Ost-)Berlin und Schule für Artistik sowie Professor an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Nach seiner Palucca-Biografie von 2001 und seinem „IM Tänzer“ über die Verstrickungen von Tänzern an den ostdeutschen Bühnen hat er jetzt sein drittes Buch vorgelegt: „Rote Schuhe für den Sterbenden Schwan – Tanzgeschichte in Geschichten“, 192 Seiten, ca. 20 s/w Abbildungen, Henschel Verlag, Leipzig 2010, ISBN 978-3-89487-595-4, € 19,90. Wie schafft er das alles? Schließlich ist er im Hauptberuf Lehrer, Hochschul-Leiter, der Dutzende von Studenten als Tänzer, Choreografen und Pädagogen regelmäßig unterrichtet und die Lehrpläne seines Instituts von Grund auf (nach ihrer strengen Ausrichtung gemäß den marxistisch-leninistischen Richtlinien) neu zu erarbeiten hatte. Jedenfalls kann er den Stoff seiner Kunst bewundernswert locker vermitteln.

Und so absolviert der Leser mit ihm einen Crashkurs durch die Tanz- und Ballettgeschichte, vom Mittelalter, den Totentänzen und Predigten gegen das Tanzen, über „Schwanensee“, das Auswärtsprinzip des klassischen Balletts, das romantische Ballett im Gefolge der Seilschaften von Sylphiden, Wilis und Bajaderen, über den Umbruch und den Aufbruch in den modernen Tanz und das moderne Ballett als Teil der „Lebensreformbewegung“ (ein Lieblings-Slogan des Autors) à la Wigman, Palucca und Graham und weiter über Diaghilew, Fokine und Balanchine bis zu Cranko, Neumeier und Forsythe, inklusive Bausch, Kresnik und Cunningham/Cage. Und das alles in einem atemberaubenden Tempo, gespickt mit populärwissenschaftlichen Floskeln. Er findet obendrein noch Zeit für historische Exkurse bis zu Aristoteles und Noverre (der allerdings Georges – und nicht George hieß).

Kenner der Materie erfahren nichts wirklich Neues, geraten aber ein ums andere Mal bei diesem Repetitions-Parcours über die flotten Sprüche des Autors ins Schmunzeln. Allerdings geraten die Proportionen etwas durcheinander, wenn der Nachkriegs-Ballettboom in Westberlin und der Bundesrepublik auf ein lächerliches Münchner Programmheft-Zitat aus dem Jahr 1964 reduziert erscheint. Wir registrieren dann doch noch im letzten, langen Schlusskapitel „Ich bin ein Schwein, Du bist ein Schwein, Wir wollen auch nichts anderes sein – oder: Wie vertragen sich eigentlich Sozialismus und Ballett?“ einen ersten Versuch einer Abrechnung mit den tänzerischen Konsequenzen der marxistisch-leninistischen Kulturpolitik in der DDR. Wie gesagt: da handelt sich‘s um eine erste Annäherung an ein offenbar noch immer als heikel empfundenes Kapitel der DDR-Geschichte. Das liest sich wie – sagen wir: die Stoffsammlung zu einer Magisterarbeit. Dabei wäre Ralf Stabel genau der Mann, der befähigt wäre, sie zu einer Habilitationsschrift auszuweiten! Das Buch beim Henschel-Verlag bestellen.

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