Nicht nur eine Sommerlektüre

Zwei Bücher, die eine Marathon-Fitness erfordern

oe
Stuttgart, 14/09/2009

Endlich! Endlich komme ich während der Sommerpause dazu, mich mit zwei Büchern näher zu befassen, die ich zwar schon kurz erwähnt habe, die mir aber wegen Ihres Umfangs eher Furcht eingejagt haben: Martin Dubermans „The Worlds of Lincoln Kirstein“ und Robert Gottliebs „Reading Dance“. Sie gehören damit in die Schwergewichtsklasse, die im Vorjahr mit John Neumeiers „Roter Bibel“ so fulminant eröffnet wurde.

Die Kirstein-Biografie trägt ihren Titel mit gutem Recht: „The Worlds …“ – die Einzahl hätte hier nicht genügt. Denn das Leben dieses Mannes, das hier mit allen Quellengaben und Registern auf 723 Seiten geschildert wird, umfasst nicht nur eine, sondern mehrere Welten. Wir kennen ihn vor allem als denjenigen, der als 27-Jähriger 1934 Balanchine nach Amerika geholt hat und so zum Gründer dessen wurde, was heute das New York City Ballet ist – und dem er bis zu seinem Tod 1996 als Direktor vorstand: das sind 62 Jahre oder dreimal so lange wie Diaghilew als Leiter seiner Ballets Russes. War Kirstein also ein Diaghilew hoch drei? Mindestens! Denn wenn er auch dem europäischen Publikum hauptsächlich als Ballettmann bekannt wurde, so hat er sich als Amerikaner mindestens ebenso verdient gemacht als eloquenter Propagandist der zeitgenössischen Bildenden Kunst (er gehörte auch zu den Gründerpersönlichkeiten des New Yorker Museum of Modern Art) sowie als Autor zahlloser Bücher nicht nur über den Tanz, sondern auch über Maler, Grafiker und Bildhauer.

Obendrein erfahren wir, dass er auch als amerikanischer Kunstoffizier in den letzten Jahren des Weltkriegs am Aufspüren der von den Nazis in ganz Europa versteckten Kunstschätze eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Und wie eng sein Verhältnis zu führenden amerikanischen Politikern seiner Zeit war – zum Beispiel zum mehrfachen Präsidentschaftskandidaten Nelson Rockefeller, der Dutzende von Malen mit Beträgen, die sich letzten Endes zu Millionen von Dollars summiert haben dürften, zum Retter aus finanziellen Engpässen am Rande des Ruins wurde. Wie er denn selbst, der er allerdings aus sehr begütertem Haus stammte, ein unermüdlicher Geldbeschaffer in Zeiten aussichtsloser finanzieller Katastrophen war (wir ahnten ja bisher nicht, wie schwierig die Anfangsdezennien waren, die der Etablierung des New York City Ballet vorausgingen – noch bis in die Jahre seiner ersten europäischen Tourneen). Ich kenne keine einzige andere Persönlichkeit der Ballettgeschichte, die eine so enge Beziehung zu so hochstehenden Politikern unterhielt wie Kirstein. Was uns letzten Endes auch zu einem Umdenken um die Verknüpfung von Politik und Ballett in der Sowjetunion zwingt.

Was auch noch in einem anderen Zusammenhang den Vergleich mit Diaghilew so faszinierend macht, ist die Tatsache seiner sexuellen Orientierung. Dass er, wenn es um die Beschaffung von Geldmitteln für die Realisierung seiner künstlerischen Pläne ging, auch nicht davor zurückscheute, mit Ladies der höchsten Gesellschaftskreise zu schlafen, der selbst vor allem in jüngeren Jahren noch davon überzeugt war, bisexuell zu sein. Dass er dann schließlich als 34-Jähriger tatsächlich geheiratet hat und, wenn wir seinem Biografen Duberman Glauben schenken dürfen, über fünfzig Jahre lang eine ausgesprochen harmonische, ja liebevolle und glückliche, wenn auch offenbar nie vollzogene Ehe geführt hat, und gleichwohl ein in seiner Umgebung allgemein bekanntes intensives Sexleben mit diversen Männern – darunter auch mit dauerhaften, im gleichen Hause lebenden Partnern – praktiziert hat, gehört zu den kaum nachzuvollziehenden Wunderlichkeiten dieser perfekt funktionierenden ménage à trois.

So liest sich diese Biografie über „Die Welten des Lincoln Kirstein“ wie ein spannender Roman über praktisch die gesamte amerikanische Bohème des 20. Jahrhunderts (mit Dutzenden von Porträts europäischer Intellektueller und Künstler von Diaghilew über Nijinsky, Balanchine, Strawinsky, Auden, Isherwood, Eliot und den Sitwells bis zu Fonteyn, Cranko und MacMillan). Ach gäbe es doch auch bei uns einen Autor vom Format Dubermans – dann hätten wir auch eine Biografie über „Die Welten des John Cranko“! Erschienen ist das Werk bei Alfred A. Knopf, 2007 in New York – zu beziehen als englische Taschenbuchausgabe bei Amazon für 18,99 Euro.

Ein ganz anderes Konvolut ist Robert Gottliebs „Reading Dance – A Gathering of Memoirs, Reportage, Criticism, Profiles, Interviews, and Some Uncategorizable Extras”, durch dessen 1330 Seiten ich mich, ich gestehe es, noch nicht einmal zu einem Viertel durchgelesen habe. Doch mir immer wieder einmal einzelne Kapitel vornehmend, bin ich jedes Mal erstaunt über die intellektuelle Schärfe und Brillanz der meisten (nicht aller) Beiträge und kann nur bedauernd feststellen, dass es bei uns nichts Vergleichbares auf dem Gebiet des Tanzes gibt. Dazu ist zu sagen, dass es sich um eine Anthologie für amerikanische (die zu allererst) und englische Leser handelt – Europa kommt nur am Rande vor (am ehesten, wie gesagt, noch England, hauptsächlich mittels Ashton nebst Fonteyn und ein paar Royals), ein bisschen französische Romantik, dann noch Bournonville und etwas Petipa samt Zarenklassik und die Diaghilew-Klientele samt den emigrierten Russen – kaum etwas über das sowjetische Ballett nach 1917, geschweige denn das restliche Europa, eine einsame Mary Wigman und ein mit Gift und Galle getränkter Beitrag über Béjart – nichts über Jooss oder Cranko, nichts über Forsythe, nichts über van Manen und Kylián, nichts über Neumeier (wobei ich nicht ausschließen kann, dass der eine oder andere vielleicht am Rande erwähnt wird – es gibt zwar ein ausführliches Verzeichnis der Quellen, aber keinen Index, was das Auffinden einzelner Persönlichkeiten sehr erschwert).

Wie die Gewichte verteilt sind, erhellt ein Vergleich: Ashton (zwei Abschnitte, einer mehr biografisch, der andere über vier seiner Ballette – insgesamt neun verschiedene Beiträge) kontra Balanchine (vier Abschnitte: George Balanchine, Balanchine Ballets, Balanchine Lost Ballets und Balanchine Dancers – insgesamt 26 Einzelbeiträge). Nun kann man lange darüber lamentieren, was alles fehlt – und niemand würde wohl auf die Idee kommen, über dieses Buch den Titel „Reading of the Worlds of Dance“ zu setzen, aber die Qualität der einzelnen Beiträge ist atemberaubend – allein was die Ex-Gattinnen, beziehungsweise seine, wie das heute so schön heißt, Lebenspartnerinnen über Balanchine sagen, Vera Zorina, Danilova, Tallchief und Tanaquil LeClercq (Karin von Aroldingen kommt nicht vor), ist ungemein erhellend. Auch Danilovas Vergleich von Balanchine und Massine fand ich absolut schlagend. Und tief berührt hat mich der mir total unbekannte Christopher Caines über Tudors „Lilac Garden“. Erstaunt hat mich der Verzicht auf den verdienstvollen Ivor Guest – und bei den Amerikanern auf John Martin, Lillian Moore, Ann Barzel und Selma Jeanne Cohen (sollte ich den einen oder die andere übersehen haben?). Wünschen würde ich mir einen Ergänzungsband, besonders über die Europäer nach 1945. Doch ein Band, um die tollsten Entdeckungen beim Herumschmökern zu machen, ist das allemal – allerdings keine Bettlektüre, denn dafür ist er mit seinen 1775 Gramm zu schwer zu handhaben. Auch diesen bei Pantheon Books in New York erschienenen Wälzer gibt es bei Amazon, allerdings bisher nur in der Hardcover-Originalausgabe in verschiedenen Angeboten ab 28,56 Euro.

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