Nicht nur als Sommerlektüre geeignet

Ein paar Buch-Empfehlungen

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Stuttgart, 31/07/2008

Demnächst ein Großjubiläum fällig? Dann empfehle ich als Kollektivgeschenk (weil ziemlich teuer): „John Neumeier – In Bewegung“ (siehe koeglerjournal vom 21.7.). Denn das erweist sich bei näherem Studium (dessen 576 Seiten unweigerlich viel Zeit in Anspruch nehmen) als eine Art Regierungserklärung (State of Art) über den Zustand und die Möglichkeiten des Balletts am Anfang des 21. Jahrhunderts – weit über Neumeier hinaus. Allerdings kaum im Urlaubsgepäck unterbringen, da mit seinen fast vier Kilogramm eher als Trainingsobjekt für Gewichtheber geeignet. Dann schon eher „Tanz mit der Zeit – Vier außergewöhnliche Lebensgeschichten“ von Marion Appelt, Plöttner Verlag, Leipzig 2008, 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-938442-45-6, 19,80 €. Das schließt in gewisser Weise an Maja Langsdorffs „Ballett – und dann?“ an, das es jetzt auch in einer englischen Ausgabe gibt: „Ballet – and Then? Biographies of Dancers Who No Longer Dance“, 271 pages, BoD Nordstedt 2006, 19.80 €.

Appelts Buch ist eine ausgesprochen bewegende Lektüre, handelt es sich doch um sehr geschickt geführte und einfühlsame Interviews mit vier Leipziger Ex-Tänzern, die alle auf die achtzig zugehen und gemeinsam mit der Choreografin Heike Henning die Produktion „Zeit – tanzen seit 1927“ erarbeitetet und dann im Leipziger Opernhaus zur Aufführung gebracht haben (auch unter gleichem Titel als Dokumentarfilm des neuseeländischen Regisseurs Trevor Peters). Bewegend, weil es die privaten und professionellen Schicksale der vier Betroffenen schildert, zwei Frauen und zwei Männer, die in der Nazizeit aufwuchsen, dort auch mit ihrer Ausbildung begannen, dann in den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren Karriere an der Leipziger Oper machten, um sich hinterher zu entscheiden, wie sie mit ihrem weiteren Leben zurechtkommen wollten – was ja in der DDR mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war– aber doch auch erfüllte Glücksmomente brachte. Und nicht zuletzt mit ihren Erfahrungen nach der Wende von 1989, nicht zu vergessen die Auseinandersetzungen mit der nachwachsenden Generation der Söhne und Töchter und ihre durchaus kritische Einstellung zu den politischen und mentalen Fehlentwicklungen zwischen Ossis und Wessis.

Vielleicht habe ich dieses Buch mit so großer Anteilnahme (Betroffenheit?) gelesen, weil ich ja zum gleichen Jahrgang gehöre und das Auseinanderdriften von Ost und West intensiv mitverfolgt habe (und zumindest Ursula Cain während meines Studiums in Halle noch auf der Leipziger Bühne erlebt habe). Umso erfreulicher zu verfolgen, wie die gemeinsame Arbeit an ihrem Tanzprojekt lange verschüttete Energien in ihnen neu belebte und zu einer Regeneration ihrer Lebenskraft geführt hat. Nicht nur der 50 plus Generation zur Lektüre empfohlen! Übrigens: wenn ich Verleger wäre, würde ich versuchen, einen Sponsor für eine Box mit den beiden Büchern von Langsdorff und Appelt zu finden – mit einer DVD von Pina Bauschs „Café Müller“ als Bonus. /

Eine ganz andere Art von Lektüre bietet Annette Bopps „André Presser – Der Ballettdirigent – Ein Leben für den Tanz und die Musik“, rüffer & rub Sachbuchverlag, Zürich 2008, 207 Seiten Abbildungsteil mit Schwarz-Weiß-Fotos, ISBN 978-3-907625-42-2, 27,90 €. Zunächst einmal: ein ganzes Buch über einen Ballettdirigenten hat es bisher überhaupt noch nicht gegeben (jedenfalls ist mir keins bekannt). Aber dem kann man natürlich entgegnen, dass es einen Ballettdirigenten wie diesen Holländer vom Jahrgang 1933 zuvor noch nicht gegeben hat. An wen erinnert man sich denn sonst noch? Allenfalls an Monteux und Ansermet, weil sie ein paar wichtige Diaghilew-Uraufführungen dirigiert haben, weiter an Constant Lambert bei der jungen Sadler's Wells Company und John Lanchbery, sowie an Robert Irving, der mit dem New York City Ballet groß wurde. Doch sonst? Toscanini, Furtwängler, Karajan und Barenboim? Allenfalls, dass sie sich mal zu einer Premiere herabgelassen haben. Unter den heutigen Weltklassenamen fällt mir nur Valery Gergiev aus St. Petersburg ein – aber dann haben die Russen natürlich immer auf einen hohen musikalischen Standard ihrer Ballettvorstellungen Wert gelegt. Doch heute bei uns? James Tuggle in Stuttgart?? Selbst München nennt im jüngsten Prachtband seines Staatsballetts („Zeitsprünge – Das Bayerische Staatsballett zwischen Tradition und Avantgarde“, Prestel Verlag, München 2008, 253 Seiten, ISBN 978-3-7913-4090-6, 22,50 €) unter den Mitgliedern von Direktion und Stab keinen Dirigenten). Nein – ein Dirigent, der hauptsächlich Ballett dirigiert, ist in den Augen der meisten (und nicht zuletzt der Musiker) ein Dirigent der zweiten Klasse.

Mit diesem Vorurteil räumen Annette Bopp und André Presser in ihrem Buch gründlich auf. Denn ihr Buch ist so etwas wie eine gemeinsame Autobiografie, in der Presser höchst lebendig und schilderungsfroh, mit vielen Anekdoten gespickt, über sein ungewöhnlich ereignisreiches Leben in der ganzen Welt berichtet, über sein höchst dramatisches Privatleben wie auch über seine Erfahrungen mit den berühmtesten Ballettpersönlichkeiten rund um den Erdball, Choreografen, Ballettchefs, Tänzer, Kollegen, die auch in großer Zahl selbst, oft sogar ausführlich zu Wort kommen (Spoerli, Neumeier, Malakhov, Keil, Klos, Vernon, Cullum, Jurgensen, Liška, und, und, und …). Das macht das Buch so unglaublich farben- und abwechslungsreich. Das übrigens auch eine warmherzige Danksagung an Nurejew und alles, was ihm Presser verdankt, enthält. Darüber hinaus bietet es eine Überfülle an Gedanken über das innige Verhältnis von Musik und Tanz, und wie sich beide zu einem einzigartigen Kunstprodukt eigener Prägung verbinden. So wird es zu einer Ehrenerklärung für eine ungerechterweise despektierlich eingestufte Profession.

Eine ebenso anspruchs- wie verdienstvolle Publikation ist „Körperwissen als Kulturgeschichte. Die Archives Internationales de la Danse (1931-1952)“, Band II in der vom Leipziger Tanzarchiv betreuten Reihe Wissenskulturen im Umbruch, erschienen im K. Kieser Verlag, München 2008, 166 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-935456-16-6, 34,00 €. Er beruht auf einem Forschungsprojekt des Centre national de la danse bei Paris und befasst sich hauptsächlich mit den Forschungen der von Rolf de Maré und Pierre Tugal begründeten Archives Internationale de la Danse (A.I.D.) und deren Sammlung und Aktivitäten (Ausstellungen, Tanzveranstaltungen, Vorträge etc.), die hier in opulenter Form, mit vielen informatorischen Anmerkungen versehen, dokumentiert sind. Als Herausgeber fungieren Inge Baxmann nebst Franz Anton Cramer und Melanie Gruß. Eine wichtige Rolle spielen die legendären Choreographischen Wettbewerbe von 1932, 1945 und 1947, die von Patrizia Veroli, der Milloss-Biografin, beschrieben werden.

Schließlich noch der Hinweis auf den bereits von Ulrich Völker hier am 20.7. besprochenen Fotoband „aesthetic fighters – Tigran Mikayelyan and the Power of Armenian Dancers“ von Thomas Kirchgraber und Ute Fischbach-Kirchgraber, mit deutschen-englischen Texten, Kirchbach Verlag, Zellerreith 2008,168 Seiten, zahlreiche Schwarzweiß- und Farbfotos, ISBN 3-927035-03-3, 35,00 €. Sie strahlen eine ungemein animalische Sinnlichkeit aus, die durchaus etwas Bedrohliches, lauernd Tückisches an sich hat, wie sie da wie Tiger über unsere Bühnen streichen. Spoerli hat sie wohl als erster entdeckt und nach Zürich importiert, von wo aus sie ausgeschert sind – nach Hamburg, nach München, nach Kanada. Gern wüsste ich mehr über die Schule, die sie geformt hat. Ich habe den Eindruck, dass da etwas heranwächst, was den berühmten Männerklassen von Alexander Puschkin in Leningrad/St. Petersburg Konkurrenz machen könnte. Vielleicht ist es ja auch ihre – für uns – exotische Herkunft, die mich bei manchen ihrer Sprünge an den jungen Nurejew denken lässt. Wundern würde es mich jedenfalls nicht, wenn da eine neue Tänzerrasse heranwüchse, die unser Tänzerspektrum um eine neue Note bereichern könnte. Die Fotos dieses Bandes machen jedenfalls Appetit darauf. Sie scheinen alle wie geschaffen, den Lieblingssklaven Sobeides in „Scheherazade“ zu tanzen – aber die Rolle des Goldenen Gottes in „La Bayadère“ könnte natürlich ebenso für exakt diesen Tänzertyp choreografiert worden sein. Link: www.aesthetic-fighters.de

 

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