Gigantomanie und die kleineren „Brötchen“

Bilanz der Spielzeit 2007/08

oe
Stuttgart, 11/08/2008

Spielzeit bezieht sich in diesem Fall durchaus auf die Circenses der Antike, die größten Massenveranstaltungen der Historie, von denen wir wissen. Das Top-Ereignis dieser Spielzeit 2007/08 war – für mich – ohne jeden Zweifel die Eröffnungsfeier der XXIX. Olympischen Spiele in Peking – eine Show der Superlative. Was hätten sich wohl die Organisatoren der XI. Olympiade vor 72 Jahren in Berlin dabei gedacht – die Herren Joseph Goebbels und Hanns Niedecken-Gebhard, samt Lady Riefenstahl (und im Hintergrund der bereits kaltgestellte Rudolf von Laban)? Und was Busby Berkeley, der gerade seinen Film „Gold Diggers of 1937“ vorbereitete, von der „International Encyclopedia of Dance“ bewundert ob seiner „Army of women wielding long-handled paddles“, choreografiert als „military drill routines“? Und was halte ich von dieser raffinierten Mischung aus Regie, Choreografie, Dramaturgie, Strategie und Gigantomanie? Hin und her gerissen war ich von dieser Demonstration perfekter Schönheit, die mir gleichzeitig Beklemmung verursachte – wie jede organisierte Massendemonstration.

Was mag wohl im Kopf des Regisseurs Zhang Yimou vorgegangen sein, als er sich dem Resultat dieses Mega-Ereignisses konfrontiert sah, das in seinem Kopf entstanden war? Und was in dem Kopf von Stephen Spielberg, der sich kurzfristig von dem Projekt distanziert hatte? Rätsel über Rätsel, deren größtes bisher ungelöstes China heißt! Doch kehren wir zurück zum Panem, den ‚Brötchen‘ dieser Spielzeit! Die waren eher normal – wie beim Bäcker, wo ich immer gefragt werde, wenn ich ein Brötchen kaufe, ob es denn ein „normales“ sein soll und ich auf pure Verständnislosigkeit stoße, wenn ich die Gegenfrage stelle, ob es denn auch ein „perverses Brötchen“ gäbe. Also was ich für das historisch wichtigste Ereignis dieser Spielzeit halte, von dem ich überzeugt bin, dass es in die Geschichtsbücher eingehen wird? Keine Frage: Das Erscheinen jenes – Buches? Folianten?, betitelt „John Neumeier – In Bewegung“. Denn eine vergleichbare Publikation hat es bisher nicht gegeben – nicht von Noverre, nicht von Bournonville, nicht von Blasis und leider auch nicht von Balanchine.

Habe ich Neumeier bisher als Ballett-Erbe Lessings und seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ gesehen, so kommt mir bei der langsam voranschreitenden Lektüre dessen, was er selbst „eine fragmentarische Autobiografie“ nennt, ein ganz anderer Vergleich in den Sinn: und zwar mit den französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts aus dem Kreis um Diderot und d‘Alembert – in seinem Fall also mit dem für die musischen Belange zuständigen Jean-Jacques Rousseau. Denn dieses – sagen wir also: Buch ist so etwas eine State-of-Art-des-Balletts-Erklärung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, seiner heutigen Erscheinungsform, seiner Problematik, seines Verhältnisses zu den anderen Künsten und seinen Zukunftschancen – ein Werk der Aufklärung also, wie es den Enzyklopädisten vor zweieinhalb Jahrhunderten vorschwebte.

Und damit zur Nomination der oes der abgelaufenen Spielzeit – wobei ich ausdrücklich betonen möchte, dass es sich um eine persönliche Einschätzung handelt, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit! Die beste Kreation eines abendfüllenden Handlungsballetts: Christian Spucks „Leonce und Lena“ in Essen – trotz der musikalischen Patchwork-Klitterung aus Klassik und Moderne. Aber auch Heinz Spoerlis musikalisch stimmigeren „Peer Gynt“ in Zürich halte ich für eine ausgesprochene Bereicherung des Repertoires. Die beste Opernchoreografie: Ramses Sigls Beschwörung der ‚mostri orribili‘ in der Zürcher Produktion von Händels „Rinaldo“. Die faszinierendsten Rollenporträts: Jason Reilly und Marijn Rademaker als Othello und Jago in Stuttgart. Die hoffnungsvollsten neuen Namen: Bridget Breiner als Choreografin der „Zeitsprünge“ und der Newcomer Demis Volpi, beide in Stuttgart.

Die erfolgreichste neue Ballettproduktion: Christian Spucks „Don Q.“ für Gauthier Dance mit 25 Vorstellungen allein im Theaterhaus Stuttgart, weiteren 8 Vorstellungen auf Tournee plus Gastspiel im kanadischen Saint-Sauveurin. Die beste Klassiker-Neuproduktion: Alexei Ratmanskys „Le Corsaire“ beim Moskauer Bolschoi-Ballett (als Aufzeichnung des Gastspiels in London). Das erfreulichste Projekt: die vom Publikum begeistert aufgenommene große „Cranko Moves“-Retrospektive in Stuttgart anlässlich seines 80. Geburtstags (leider ohne die bei dieser Gelegenheit erhoffte Gründung einer schon lange überfälligen Cranko-Stiftung). Erwähnenswert zumindest die beträchtliche Anzahl von „Normal“-Vorstellungen, die ich hier nicht alle einzeln aufführen kann: in Stuttgart sowieso, aber auch in München („Onegin“ – entschieden der forciert originellen Opern-Neuproduktion im gleichen Haus überlegen), in Hamburg, Zürich, Berlin, Mainz und auch Wuppertal – die diversen Gastspiele in Ludwigsburg (der sensationelle McGregor mit seiner Random Dance Company) etc. etc.

Es gab eine Reihe von Abschieden: voller Wut und Zorn in Bonn (Johann Kresnik), mit großem Bahnhof in Essen (Martin Puttke) und von resignativer Melancholie umschattet in Nürnberg (Daniela Kurz). Erwartungsvoll und mit Spannung aufgeladen die Neuanfänge von Hans Henning Paar am Gärtnerplatz in München, von Robert Conn in Augsburg, von Eva-Maria Lerchenberg-Thöny in Braunschweig und von Stephan Thoss in Wiesbaden, und es gab das auf der Stelle heftig akklamierte Debüt des kleinen aber feinen Ensembles Gauthier Dance im Stuttgarter Theaterhaus. Auch aus Linz (Jochen Ulrich) und Chemnitz (Lode Devos) hörte ich Positives. Weiterhin nur Negatives dagegen von dem in k.u.k.-Nostalgie dahindämmernden Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper (mit Ausnahme von Nicholas Musins putzmunterem Fußball-Ballett im Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker).

Die bewegendste TV-Dokumentation: der Rückblick auf das Leben und Sterben von Uwe Scholz im Theaterkanal des ZDF. Weiter zwei überreich ausgestattete DVD-Boxen: die 6 DVDs umfassende Collection „Hans van Manen, Master of Movement“ aus Holland und die drei – insgesamt neunstündigen – DVDS „John Neumeiers Ballett-Werkstatt“ (ARD-Video). Und so zu den Negativa! Die total verfehlte Produktion von Richard Wherlocks enervierend unmusikalischem „A Swan Lake“ in Basel und Kresniks ungeschlachte „Siegfried“-“Götterdämmerung“-Metzelei in Bonn. Herzlich überflüssig: die Neuproduktion von Petipa/Iwanows „Floras Erwachen“ fürs Mariinsky-Ballett (beim Gastspiel in Baden-Baden).

Schließlich noch der Hinweis auf ein paar wichtige Buchveröffentlichungen – jenseits des Neumeier au concours: auf die aufregende englische Nurejew-Biografie von Julie Kavanagh (demnächst auch in deutscher Übersetzung) – auf Marion Appelts „Tanz mit der Zeit“ mit den aufschlussreichen Interviews mit vier altgedienten Leipziger Tänzern, die es als Senioren noch einmal mit dem Tanz aufgenommen haben – auf Annette Bopps „André Presser – Der Ballettdirigent“, die weit über ihren Untertitel „Ein Leben für den Tanz und die Musik“ hinaus ein vehementes Rechtfertigungs-Plädoyer für die sträfliche Unterschätzung der Ballettkapellmeister-Zunft liefert – und auf Michael Heuermanns Tatjana-Gsovsky-Biografie mit vielen ergänzenden und erhellenden zusätzlichen Informationen über ihren eigenen Band hinaus.

Und die neuen Stücke von Sidi Labi-Cherkaoui, Anne Teresa de Keersmaeker, Sasha Waltz und Alan Platel? Sorry, aber die habe ich nicht gesehen – ebenso wenig wie den neuen Akram Khan. Aber das ist nicht ganz aufrichtig, denn wirklich sorry bin ich deswegen nicht (und auch nicht über ein paar andere Auslassungen). Gern gesehen hätte ich dagegen die neuen Marco Goeckes in Leipzig und Monte-Carlo, das neue „Dornröschen“ von Aaron Watkin in Dresden und Juri Vamos‘ „Jüdin von Toledo“ in Düsseldorf/Duisburg. Die kurioseste Erfahrung: die Absage für meine Bitte um eine Pressekarte für eine Vorstellung beim movimentos Festival in Wolfsburg: komplett ausverkauft! Und hier sei vor der Sommerpause noch eine Vorwarnung angebracht – dass ich in der nächsten Spielzeit vermutlich meine Reisetätigkeit erheblich einschränken muss: ich verkrafte die Strapazen einfach nicht mehr, denn der Abbau der physischen Kräfte beschleunigt sich nachgerade in beängstigendem Ausmaß. Und hier nun das ganz ehrlich gemeinte: Ever so sorry! Im Übrigen: Have a nice rest of the summer!

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