Eine andere Art von Ost-West-Karriere

Marion Kant: „The Cambridge Companion to Ballet“

oe
Stuttgart, 03/07/2008

Wie bescheiden nahmen sich doch unsere ersten publizistischen Einführungen an das Ballett nach dem Krieg aus. Ich denke an Arnold Haskells „Ballet, A Complete Guide to Appreciation: History, Aesthetics, Ballets, Dancers“, erschienen 1945 bei Penguin in London. Oder an O. F. Regners „Das neue Ballettbuch“ bei Fischer 1962 in Frankfurt. Und wie prächtig gibt sich dagegen auch noch in der Paperback-Ausgabe Marion Kants „The Cambridge Companion to Ballet“ (Cambridge University Press 2007, 352 Seiten, ISBN 9780521539869, £ 15.99). Die Herausgeberin ist Marion Kant, geboren 1951 in Berlin als Tochter von Ernst Hermann Meyer, Präsident des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR, später verheiratet mit Hermann Kant, Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR.

Aufgewachsen in Ostberlin, erzogen als antifaschistisch stramme DDR-Bürgerin im Staat von Walter Ulbricht und Margot Honecker, zog sie erste publizistische Aufmerksamkeit auf sich durch Artikel über den „Roten Tänzer“ Jean Weidt, wurde an der Humboldt Universität mit einer Arbeit über das romantische Ballett promoviert, über das sie auch im „Giselle“-Programmbuch der Staatsoper Unter den Linden den grundlegenden Artikel schrieb. 1996 war bereits bei Henschel in Ostberlin ihre zusammen mit Lilian Karina herausgegebene Dokumentation „Tanz unterm Hakenkreuz“ erschienen, in der sie gnadenlos abrechnete mit Laban, Wigman, Palucca und anderen über deren „Eingliederung und Unterwerfung unter das NS-Regime“. Seither hat man hierzulande kaum noch von ihr gehört. In den biografischen Notizen des Cambridge Companion wird sie vorgestellt als „teaching courses in cultural and dance history, performance criticism and the history of secularism at the University of Pennsylvania, Philadelphia“. Sie lebt und arbeitet aber inzwischen offenbar in England unter strikter Vermeidung jeglicher Erwähnung ihrer linientreuen DDR-Herkunft.

Auch ohne vorzugeben, über alles Wissenswerte aus der Geschichte und die heutige Situation des Balletts rund um den Globus zu informieren, enthält der stattliche Band eine imponierende Fülle von Fakten – selbst für den vermeintlich Kundigen des Metiers. Er beginnt mit einem bewundernswert konzisen Vorwort des internationalen Grandseigneurs der Ballettpublizistik Ivor Guest, bietet nach der Vorstellung der Autoren (aus Deutschland außer Kant auch Dorion Weickmann über „Choreography and narrative: the ballet d'action of the 18th century“, also hauptsächlich über Noverre und Angiolini, wo man doch für dieses Kapitel eher DIE internationale Autorität auf diesem Gebiet, Sibylle Dahms, erwartet hätte), eine Introduction von Kant, in der sie die notwendige Selektion ihrer Themen und deren Inhalt erläutert und sodann eine 40 (!) Seiten lange „Chronology“, die 1279 mit „The Mongols conquered China“ beginnt und 2006 mit „People's Republic of China declared Ghengis Khan Chinese“ endet – mit vielen in diesem Zusammenhang eher marginalen historischen Details (darunter auch die kuriose Formulierung für 1990: „Federal Republic of Germany absorbed German Democratic Republic“ – auch war offenbar kein Raum vorhanden, den Engagementantritt Crankos in Stuttgart 1961 oder seinen Tod 1973, geschweige denn seinen „Onegin“ von 1965 zu registrieren).

Anschließend wird in vier Teilen die Entwicklung des Balletts geschildert, überwiegend von amerikanischen, aber auch europäischen Autoren: „From the Renaissance to the baroque: royal Power and worldly display“, „The 18th century: Revolution in technique and spirit“, „Romantic ballet: ballet is a woman“ und „The 20th century: tradition becomes modern“. Die einzelnen Beiträge fallen naturgemäß sehr unterschiedlich aus – manche sind sehr faktenhuberisch, lesen sich aber insgesamt gut und sind durchweg um die Aufhellung der sozio-historischen Hintergründe bemüht. Eins der besten Kapital ist Kants „The soul of the shoe“, das weit mehr als eine Geschichte des Schuhs ist. Gleich anschließend nimmt sich Erik Näslund aus Schweden der Ballett-Avantgarde an in „The Ballets Suédois and its modernist concept“, die er gegen die Ballets Russes von Diaghilew ausspielt, die erstaunlicherweise mit keinem eigenen Kapitel vertreten sind. Dafür gibt es von Tim Scholl einen zweiten Avantgarde-Beitrag: „The ‚new‘ Russian and Soviet dance in the 20th century“. Dann geht es weiter mit George Balanchine, der, einigermaßen überraschend, von einer Klavierlehrerin vorgestellt wird, und mit einem zweiten, hochinteressanten Kapitel über „Balanchine and the deconstruction of classicism“ (aber Forsythe taucht erst fünfzig Seiten später auf). Dann geht es erst einmal wieder zurück, zum „Nussknacker“ als „a cultural icon“.

Weitere eigene Kapitel sind überschrieben „From Swan Lake to Red Girl's Regiment: ballet's sinicisation“ (das finde ich eine besonders hübsche Wortprägung: die Sinifizierung des Balletts) und „Giselle in a Cuban accent“, bevor Kant selbst auf knapp zwanzig Seiten sich im Schlusskapitel mit dem „European ballet in the age of ideologies“ befasst – überaus vorsichtig um Neutralität und Objektivität bemüht für eine marxistisch-leninistisch geschulte Autorin. Gar zu kursorisch behandelt erscheinen mir die nur ganz en passant erwähnten Entwicklungen auf dem Gebiet des Tanztheaters, des Musicals (das nur in Zusammenhang mit Balanchine und Robbins erwähnt wird), und des Films und Fernsehens.

Auch wenn ich mir darüber im Klaren bin, dass dies ein Buch ist, das sich in erster Linie an eine angloamerikanische und internationale Leserschaft wendet, bin ich doch erstaunt, dass die gegenwärtige Ballettszene außerhalb von London, New York und Paris nebst Moskau und St. Petersburg samt China und Kuba so – um Kants Wortprägung aufzugreifen „minifiziert“ wird. Auffällig auch, dass sie keinen ihrer ehemaligen Kollegen erwähnt, keinen Petermann, keinen Rebling – in ihrer sonst so informativen und gründlichen „Bibliography and further reading“, ihren immerhin zwanzig Seiten „Notes“ (detaillierte Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln) oder in einem der drei Indices, die den „Persons“, „Ballets“ und „Subjects“ vorbehalten sind (letztere beginnen mit „Absolutism“ und enden mit „Zen Buddhism“ und „Ziegfeld Follies“ – kein Stichwort übrigens für den „Socialist Realism“). Ich bin überzeugt, hätte es 1989 nicht gegeben, Marion Kant wäre heute Lehrstuhlinhaberin an der Ostberliner Humboldt Universität für eine Tanzwissenschaft auf der Basis des Marxismus-Leninismus (à la Juri Slonimsky in der Sowjetunion). So aber hat sie sich rechtzeitig aus dem Staube gemacht, bevor noch irgendwelche Vorwürfe über ihre „Eingliederung und Unterwerfung unter das SED-Regime“ gegen sie erhoben wurden.

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