Vor einem halben Jahrhundert

Meine erste Begegnung mit John Cranko in London

oe
Stuttgart, 15/08/2007

Es war am Dienstag, dem 26. Juni 1956. Da steht es, mit dem Bleistift gekritzelt, in meinem Notizbuch: 15.00 John Cranko. Mein erster Besuch bei ihm in einer ziemlich heruntergekommenen Wohnung, eigentlich mehr eine Art Absteige, in der Nähe des Londoner Victoria-Bahnhofs. Ich kann nicht mehr sagen, wie der Kontakt zustande gekommen war. Es war meine erste England-Reise, und jeden Tag hatte ich mehrere neue Leute kennengelernt. Vielleicht war es ja Clive Barnes oder John Percival, denen ich auch in jenen Tagen erstmals begegnet war, die das Treffen vermittelt hatten. Jedenfalls wimmelt es nur so von Namen in meinem Notizbuch – hauptsächlich Kritiker-Kollegen (darunter auch Mary Clarke, damals noch nicht Chefin der „Dancing Times“ – und es war klar von Anfang an, dass die Chemie zwischen uns nicht stimmte – und das ist auch heute noch so).

Jedenfalls war es nicht eins der Cranko-Ballette, die ich damals in den Vorstellungen der damals noch Sadler‘s Wells Theatre Ballet genannten Kompanie – also der Junioren-Truppe des Sadler‘s Wells Ballet – gesehen hatte, das in mir den Wunsch geweckt hatte, ihm zu begegnen. Sondern die Aufführung von „Cranks“, das nach dem Uraufführungs-Sensationserfolg im St. Martin´s Theatre gerade ins Duchess Theatre verlegt worden war. Das war ein merkwürdiges Stück, ohne Gattungsbezeichnung. Auf dem Programm hieß es lediglich: Written and devised by John Cranko, Music composed by John Addison und Decor by John Piper – aus- und aufgeführt von Annie Ross und drei Boys, darunter Anthony Newley, der zu den Stars der Musicalszene gehörte. Was war das nun?

Das fragten sich auch die vier gleich in der Eröffnungsnummer: „Are we poets or peasants? Nice Christmas presents? Dancers or singers? Bankers? Bellringers? Do we belong to clubs? Get drunk in pubs?“ Und weiter in der zweiten Strophe: „Am I Marilyn Monroe? Jean Cocteau? Marlon Brando or just dumb cramp? John Gielgud? Robin Hood? La Traviata? Frank Sinatra?“ Ich entschied mich für eine getanzte Kabarett-Revue. So etwas hatte ich nie zuvor gesehen. Ich war hingerissen. Diesen Cranko musste ich unbedingt kennenlernen. Und diese „Cranks“ mussten in Deutschland gastieren. Doch daran war Cranko überhaupt nicht interessiert. Der war mit Größerem, Seriöserem befasst und arbeitete mit Benjamin Britten zusammen an seinem ersten abendfüllenden Ballett „The Prince of the Pagodas“, das dann am 1. Januar 1957 in Covent Garden zur Uraufführung gelangte (inzwischen war aus dem Sadler‘s Wells Ballet das königlich privilegierte Royal Ballet geworden).

Nein, ich kann mir nicht einbilden, als erster Cranko auf den Zahn gefühlt zu haben, ob er sich vorstellen könnte, auch in Deutschland zu arbeiten. Das haben etwas später ganz andere Leute getan – zu einer Zeit, während der es ihm in London nicht besonders gut ging. Ich denke heute gleichwohl an diese zwei Londoner Sommerwochen in geradezu nostalgischer Verklärung zurück. 1956: das war ja ein Mozart-Jubiläumsjahr – und das bedeutete auch mein Debüt in Glyndebourne – mit der „Entführung“, dem „Figaro“ und „Idomeneo“ an aufeinanderfolgenden Abenden (und einem Empfang nach „Idomeneo“ bei der englischen Königin, die ihren ersten Glyndebourne-Besuch absolviert hatte – ich hatte mir für diese Gelegenheit in einem Londoner Leihhaus meinen ersten – und bis heute einzigen – Smoking geliehen).

Natürlich war ich jeden Abend im Theater oder im Konzert – hinterher dann meist auf einer Party. Ich lese die Titel wieder: „Coppélia“, „Schwanensee“, die Abschiedsvorstellung von Violetta Elvin als Aurora in „Dornröschen“; von Kenneth MacMillans „Danses concertantes“ war ich übrigens weit mehr beeindruckt als von Crankos „Pineapple Poll“ (zu englisch – not „My cup of tea“), dann eine der ersten Vorstellungen von John Osbornes Durchbruchsstück „Look Back in Anger“, „Salad Days“, „The Pajama Game“, „Plain and Fancy“, „The Boy Friend“, „The Magic Flute“, „Queen of Spades“, Sheridans „The Rivals“, „Richard III“, Marlene Dietrich ... Diese Sommernächte im Hyde Park, der dann um Mitternacht zugesperrt wurde, so, dass wir über den Zaun klettern mussten, um wieder herauszukommen ... Na ja, wir waren neunundzwanzig (dass Cranko und ich zum gleichen Jahrgang gehörten, wurde mir erst später bewusst) – und das Jahr war 1956, sozusagen das Vorecho der „Swinging Sixties“. Vier Jahre vor Crankos Stuttgarter Debüt, sechs Jahre vor dem „Romeo und Julia“-Durchbruch zum „Stuttgarter Ballettwunder“.

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