Quo vadis Eurythmie?

Erkenntnisgewinn und Richtungsvielfalt beim Solofestival Eurythmie

Alfter/Bonn, 14/11/2007

Sie komme aus der Hausbesetzerszene, keine rosa gestrichenen Wände. Der Alltag sei vielmehr durch Drogen, Schmutz und Armut gekennzeichnet, erklärt Donna Corboy. Mit wenig Worten, ungewöhnlich direkt und schwarzhumorig bereitet die Eurythmistin das Publikum beim dreitägigen Solofestival in der Alanus Hochschule vor auf ihre Performance „The Question“. Was kommt, ist ein stringentes Stück zu elektronischer Musik, das, laut Corboy, weniger für eine teure Theaterbühne denn für Schaufenster gedacht sei. Radikal und konsequent, aber ohne zu denunzieren, stellt Corboy nicht nur sinnfällige Fragen, sondern nimmt überkommene Werte und ästhetische Implikationen der anthroposophischen Inszenierungskunst unter die Lupe. Wenn sie beispielsweise statt Schleier, die den Körper sanft umspielen, eine weiße Crioline trägt und diese über den Kopf stülpt. Der Reifrock – einst modisches Unterkleid höfischer (Kostüm-)Prachtentfaltung - wird zum geöffneten Trichter. On Air, etwa auf Empfang neuer froher Botschaften? Darunter der fast nackte Unterkörper, Beine und Bauch sind mit Frischhaltefolie (!) umwickelt. Nebenher rollt eine ballgroße durchsichtige Kugel, in der ein wuscheliges, kleines, weißes Tier trippelt. Eine lebendige Maus? Ein trickreiches Spielzeug? Eine geniale Metapher zwischen Kunst als Luftblase und Mensch im Hamsterrad?

Dicht gedrängt und hochkonzentriert verfolgen die rund 200 Zuschauer, in der zum Theater umgebauten Scheune, den Auftritt. Für synchrone Abläufe chorischer Schreittänze ist die aus Neuseeland stammende, in Italien lebende Corboy viel zu eigenwillig. Sie ist eine Leib- und Seele-Solistin, die bereits bei den Basler Eurythmie-Messen mit düster-chaotischen Material-Aktionen polarisiert hatte. Auffallend aufgeräumt hingegen ihr Auftritt in Alfter. Minimalistische Bewegungen vor einer Videowand, wobei sie dem eurythmischen Bewegungskanon erstaunlich treu bleibt. Statt nach Eurythmie fragt sie nach Poesie: „What ist poetry?“ will der projizierte Fließtext, der immer wieder von einer schwappenden Wasseroberfläche weggespült wird, wissen. Politisch wach und selbstkritisch blitzen parodistische Momente auf. Surreal und träumerisch fliegen ihre Gedanken, gleichsam als narrativer Faden, über die Projektionsfläche. Und was ist Poesie? Laut Donna Corboy keine Profession, sondern eine Art, die Zeit verstreichen zu lassen. Selten sah man Subversion und entspannte Unterhaltung in so innigem Miteinander.

Motor und künstlerischer Leiter des Treffens ist der ehemalige Eurythmist Jurriaan Cooiman. Der in der Schweiz lebende Niederländer veranstaltet seit acht Jahren mit Partnern vor Ort Eurythmie-Messen (2000/02 in Basel) und -Festivals (2001 in Dornach, 2003/05 in Den Haag, 2007 in Alfter). Darüber hinaus produziert er Videos und DVDs, die den aktuellen Stand der Eurythmie dokumentieren. „Was uns verbindet“, sagt Cooiman einleitend „ist eine mehrjährige Eurythmieausbildung. Ziel des Treffens ist zu sehen, wo jeder einzelne - nach diesem Sprung durch den brennenden Reifen -gelandet ist.“ Insgesamt tut sich eine überraschende Vielfalt an Laut- und Ton-Eurythmie, an durchkomponierten Stücken und erfrischender Improvisation auf. Corboys Position ist eine von 25 (darunter einige studentische Arbeiten der Wiener Akademie of Living Movement und der Alanus Hochschule).

Dem Organisator und Dramaturgen Cooiman gedankt ist es keine Minute langweilig. Einerseits wird der Begriff ‚Solo’ nicht allzu eng gefasst, auch Duette und Trios sind zugelassen; andererseits prallen gegensätzliche Positionen aufeinander. Die Auftritte der zum Teil weit angereisten Künstler - aus Japan, Georgien, Großbritannien, Italien, der Schweiz, Österreich und den Niederlanden, sowie aus allen Ecken Deutschlands - verlieren sich weder auf einer überdimensionierten Bühne noch in Selbstgefälligkeit; das Kammerformat der Scheune erweist sich als idealer Ort, um die Soli hautnah und detailgenau zu erleben. Wie ein roter Faden ziehen sich gelungene Beispiele eines intensiven Austauschs von Bewegung und Musik durch das Programm.

Angefangen vom Auftakt „Sept papillons“ von Stefan Hasler und Tanja Masukowitz zur Musik der zeitgenössischen Finnin Kaja Saariaho über die Hommage an den frühvollendeten russischen Komponisten Vladimir Solotarjov „In Memoriam“ des Trios Elsmarie Ten Brink, Christina Kerssen und Barbara Bäumler bis hin zur abschließenden „Nocturne: one to one“. In Chopins Nachtstück - am Flügel virtuos interpretiert von Victor Moser – greift Melaine MacDonald toneurythmische Elemente auf. Getanzt im einfachen, schwarzen, schweren Wollmantel gewinnt das Stück trotz - oder wegen - der schnörkellosen eins zu eins Umsetzung an Gewicht und Glaubwürdigkeit.

Wie MacDonald wählen einige Darstellerinnen die Variante des ‚unsichtbaren Instrumentalisten’ hinter einem Gazevorhang. Andere nehmen die Musiker als festen Bestandteil auf die Spielfläche oder aber, wenn es die Instrumente erlauben, wie die Klarinette (in Gail Langstroths „Ego Eimi – I, I am“) und die Geige (im Stück „Ombra-Andante-Improvisation“ von Magali Müller-Peddinghaus), bewegen sich die Live-Musiker in einem choreografisch vorbestimmten Rahmen auf der Bühne.

Die Aussagekraft musikalischer Pausen, analog zu räumlichen Distanzen, gewinnt im Doppel von MacDonald (Springsong von A. R. Thomas) und Kaya Kitani (Nachtklänge von Toshio Hosokawa) Bedeutung, zwei wunderbar klar choreographierte, ineinander greifende Werke.

Noch weiter Richtung Fernost und damit tiefer in das asiatische Zeitgefühl tauchen Yuki Matsuyami in „Hyojo-Netori“ (Herbst-Stimme) und Yoichi Usami in „Garden“. Obwohl hier die japanische No-Flöte aus dem 17. Jahrhundert, wie die Piano-Komposition von Toshio Hosokawa nur vom Band kommen, erzeugen die beiden Japaner, die sich seit Rückkehr in die Heimat mit ihrer kulturellen Identität auseinandersetzen, eine enorme Bühnenpräsenz und atmosphärische Dichte.

Neben Widmungsstücken an die Musik, zu denen auch Tille Barkhoffs beeindruckende „Fuge“ zum gleichnamigen Frühwerk von Alfred Schnittke zählt, erinnern Ulrike Wendt und Stefan Haslers „Steinerformen“ zu Ludwig van Beethoven, César Franck und Alexander Skrjabin sowie Gia van Akkers „Für Else Klink“ an die Ursprünge der Eurythmie. Diese Blickrichtung verfolgt seit Jahren auch der Lehrer und Performer Hans Fors, dessen Vortrag „Eurythmie historisch betrachtet“ erhellende Parallelen zwischen den Anfängen der Steinerschen Eurythmie und dem Ausdruckstanz (der sich je nach Vertreterin auch, freier, neuer, absoluter Tanz, ja sogar Eurhythmie nannte) zieht. Kurze Filmausschnitte von Tänzerinnen wie Rosalie Chladek, Niddy Impekoven und Loie Fuller illustrieren beispielsweise das damalige Faible für Schleiertänze. Fors’ Erkenntnisse bringen frischen Wind in die Diskussion, seine rezeptionsästhetische Recherche bereichert und - Kritiken der 10er und 20er Jahre zitierend - erheitert.

Wenngleich die Toneurythmie (die Musik sichtbar macht) überwiegt, ein halbes Dutzend Auftritte befassen sich mit Lauteurythmie, der Umsetzung von Sprache. Berührend die von feinem Humor durchzogenen „Grenzgänger“ von Birgit Hering zu einer Collage aus Klezmer-Klängen und Kafka-Texten, exzellent vorgetragen von der Schauspielerin Beate Krützkamp. Pathetisch im Vortrag, entschieden in der Umsetzung „The Ship of Death“, einem späten Poem des Lady Chatterley Autors D. H. Lawrence durch Maren Stott. Je erhabener und entfernter der Bedeutungshorizont eines (Bibel-)Textes oder eines attischen Charakters wie Elektra, desto tragischer mutet das (vergebliche) Ringen um eine angemessene Form an.

Ebenso schwierig wie es zu sein scheint, sich entrückten Wirklichkeiten ohne (überflüssiges) Pathos zu nähern, ist die Gegenbewegung, sich in der Kleinheit der eigenen Existenz zurecht zu finden. „Alle sind wir Winzlinge“ lautet die Anfangszeile im Gedicht von Andrea Zanzotto, auf das sich Hans Wagenmann bezieht. Zwischen Eurythmie und Butoh-Anleihen pendelnd, gemahnt sein puristischer Rückblick in die Kindheit (Titel: „Ein Haufen von Ich“) an das arme Theater des polnischen Theatererneuerers Grotowsky.

Wohin wird es gehen? Die Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Für die beiden künstlerisch Verantwortlichen Jurriaan Cooiman und Melaine MacDonald steht zunächst fest: Es soll weitergehen. Zumal im Vergleich mit den drei vorangegangenen Festivals in Dornach und Den Haag eine wachsende Kommunikationsbereitschaft aller Beteiligten erkennbar ist. „Wir müssen uns von draußen anschauen lassen“ appellieren die beiden bei ihrer abschließenden Bilanz. Ein Schritt in diese Richtung sind die nachbereitenden Gespräche mit den Regisseuren Dieter Bitterli und Walter Pfaff. In diesen ‚Reflexionen’ zeigt sich eine neue Offenheit gegenüber der - meist konstruktiven – Kritik, was auch in umgekehrter Richtung gilt. Für beide Theatermänner ist die Eurythmie, der sie vorurteilslos begegnen, neu. Anhand des Begriffs ‚Figur’ beschreibt Bitterli wertfrei seine subjektive Wahrnehmung der Stücke, eine zu zeitaufwändige Methode, als dass sie nach dem ersten Tag für 20 weitere Stücke Schule macht. Pfaff kommentiert kritisch anhand so genannter prä-expressiver Kategorien. Die Meinungen zu der, dem Theateranthropologen Eugenio Barba entlehnten Methode, gehen bei den angesprochenen Eurythmisten auseinander.

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