Raus aus dem „Closet“

Peter Stoneley: „A Queer History of the Ballet“

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Stuttgart, 17/01/2007

Mit einem Tabu ist das Thema dieses englischen Buches nicht länger belegt. Gleichwohl ist die Verbindung von Homosexualität und Ballett noch immer eine ziemlich delikate Angelegenheit. Schon die Übersetzung des Titels bereitet Skrupel: „Eine schwule Geschichte des Balletts“? Lieber ersetzen wir heute das Wort „schwul“ durch „gay“. Klingt ja auch netter, fröhlicher, jünger. Und mit dem Jungsein hat das Ballett ohnehin mehr zu tun als die anderen darstellenden Künste. Kein Wunder, dass es eine besondere Attraktivität für schwule Männer hat – sowohl für die Ausübenden als auch für die Konsumenten (für die einschlägigen Frauen auch – aber die kommen in dem Buch nur am Rande vor).

Der Titel nimmt den Mund allerdings etwas voll. Der Autor, Professor an der Schule für englische und amerikanische Literatur an der Universität von Reading, ein kluger, sehr belesener und auch soziokulturell durchaus beschlagener Mann, nimmt es aus der Perspektive des romantischen Balletts um die Mitte des 19. Jahrhunderts ins Visier. Wer wissen will, wie es sich denn mit dem Ballett in früheren Zeiten, bei den französischen Akademikern, bei Noverre, den Viganòs, bei Vestris und Bournonville während seiner Studienjahre in Paris verhielt, erfährt nichts. Stoneley setzt ein mit seinen Betrachtungen bei den Romantikern – mit dem Ballett der Nonnen in Meyerbeers „Robert der Teufel“, mit „La Sylphide“, „Giselle“ und „Ondine“ – und auch da erfahren wir nichts über die Tänzer, sondern die Ballette dienen ihm lediglich als Projektionsfläche der Sehnsüchte schwuler Männer nach dem anderen Geschlecht. Also geht es mehr um die Sylphiden, Wilis, Feen und Schwanenjungfrauen. Konkreter wird er erst bei der Identifikation Tschaikowskys mit dem Schwanenmythos – und da wartet er allerdings mit zahlreichen Fakten über die schwule Unterwelt von St. Petersburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, in der auch Tschaikowsky verkehrte – intensiver offenbar, als uns bisher bewusst war.

Nicht ohne Schmunzeln nehmen wir auch seine generellen phallischen Assoziationen mit dem Schwan zur Kenntnis. Konkreter wird Stoneley dann in dem Kapitel „Queer modernity“, in dem es hauptsächlich um Diaghilew und Nijinsky geht. Doch wird Biografisches nur am Rande gestreift (auch über Diaghilews Verhältnis zu anderen Tänzern wie Massine und Lifar). Kein Wort indessen über die ursprüngliche schwule Thematik in „Jeux“, eher über die androgyne Figur des Pagen in „Les Biches“). Auch hier geht es im Wesentlichen um das Ballett als Identifikationsobjekt einer speziellen schwulen Klientel. Mit keinem Wort erwähnt wird auch das Verhältnis Rolf de Marés zu seinem Tänzer Jean Börlin und die von ihm ins Leben gerufenen Ballets Suédois. Richtig spannend wird es dann im Kapitel „New York and the ‚closed shop‘“, dessen Hauptfigur Lincoln Kirstein ist als eigentlicher Kreateur des amerikanischen Balletts.

Hoch interessant die frühen Jahre vor der Etablierung des New York City Ballet – und natürlich auch sein Verhältnis zu Balanchine, der ja nun alles andere als schwul war – und wie Kirstein seine Vision von der Virilität des tanzenden amerikanischen Mannes durchsetzt. Ebenfalls neue Perspektiven eröffnen dann seine Überlegungen über „The prima and her fans“ – in denen es um Margot Fonteyn (nebst Nurejew) und ihr Publikum geht. Und noch überraschender dann das Kapitel „Dance of the sailors“, das sich auf eine Untersuchung Jean Genets und seine Beziehung zum Ballett einlässt.

Wer Enthüllendes über Cocteau, Tudor, Petit, Robbins und Béjart erwartet, kommt ebenso wenig auf seine Kosten wie derjenige, der gerne etwas über die schwulen Untergrundaktivitäten des sowjetischen Balletts (namentlich während der sexuell sehr freizügigen Jahre nach der Oktoberrevolution) erführe. Umso verblüffender dann zum Schluss die „Conclusion: Traces“, in der sich Stoneley mit John Neumeiers und Matthew Bournes „Schwanensee“-Versionen befasst (und auch den Film „Billy Elliot“ erwähnt) – und sodann – suprise, surprise – mit Pina Bauschs „Nelken“ (nebst den Erklärungen der Tänzer, warum sie diesen Beruf ergriffen haben) und Angelin Preljocajs „Casanova“, in dem er das Publikum an die schwul-homosexuelle ‚Konstellation‘ der französischen soziokulturellen Szene erinnert. Peter Stoneleys „A Queer History of the Ballet“ ist bei Routledge in Abingdon erschienen, 206 Seiten, 17.99 £

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