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oe
Stuttgart, 26/12/2007

Sechs Tage vorweihnachtliches Van Manen-Marathon – und danach? Jedenfalls keine Auszeit! Denn ein paar Infos wollen noch vor Jahresende an den Mann und die Frau gebracht werden. Vor allem die Winter 2007/08 Ausgabe des englischen „dance now“ (oe‘s persönliches „international leading dance magazine“). Das enthält den besten Ballettartikel des Jahres (den ich gelesen habe), „The Messerer Dynasty“ von Ismene Brown – über die berühmte russische Tänzer-, Choreografen- und Pädagogenfamilie, ihre internationalen Erfolge und die unsäglichen Leiden, die sie zu Sowjetzeiten auszustehen hatte (nicht zuletzt verursacht durch einen gewissen Juri Grigorowitsch).

Sonst noch lesenswert auf diesen 95 Seiten: die ziemlich kritischen Berichte über Christopher Wheeldons neue Kompanie Morphoses aus New York und London, eine überraschend freundliche Kritik über Amanda Millers „Giselle“-Gastspiel beim Umbrella Festival in London (nicht von W. H.!), Clive Barnes‘ immer wieder fesselnde Kolumne „Somewhat Opinionated“ aus New York (auch er – einigermaßen verblüffend für uns Europäer – einer Meinung mit der Mehrzahl seiner amerikanischen Kollegen über Morris‘ und seine „Mozart Dances“: „Morris and his collaborators have here achieved an epic serenity wonderfully rare in art“ – und John Percivals ausführliche Besprechung von Julie Kavanaghs 800 Seiten umfassende Biografie über „Rudolf Nureyev: The Life“ (inklusive der Bemerkung „about his first homosexual relationship with the German dance student Teja Kremke, who died young but left a valuable archive of films he took of Nureyev dancing“).

Dann gilt es Abschied zu nehmen – nach dreißig Jahren von George Dorris und Jack Anderson als Editors des amerikanischen „Dance Chronicle – Studies in Dance and Related Arts“, dessen erste Ausgabe im Herbst 1977 erschien, zunächst als Vierteljahresschrift, jetzt dreimal im Jahr. Als Volume 30, number 3, 2007 rangiert der dicke fast 200 Seiten-Band, der beiden langjährigen Lebenspartner, die schon seit meinem ersten Amerika-Aufenthalt Mitte der sechziger Jahre zu meinen engsten amerikanischen Freunden gehören. Anderson war lange Kritiker der New York Times, hat zahlreiche Bücher geschrieben und berichtet weiter fast jeden Monat aus New York für die englische Dancing Times, Dorris war Professor am English Department des York College und ist primär ein Musikmann. Zusammen haben die beiden in den drei Jahrzehnten die Zeitschrift zu einer der international renommiertesten tanzwissenschaftlichen Publikationen gemacht, mit Beiträgen der bekanntesten Autoren aus aller Welt – darunter in der letzten von ihnen verantworteten Ausgabe Sibylle Dahms über „Some Questions on the Oiriginal Version of Gluck and Angiolini‘s ‚Don Juan‘“.

Übrigens in dieser Ausgabe unter den „Books Received“ auch ein Hinweis auf Marion Kants „The Cambridge Companion to Ballet“, erschienen bei Cambridge University Press. Die aus Ostberlin stammende Lady, Jahrgang 1951, bekannt geworden durch ihre „Giselle“-Dissertation und ihr zusammen mit Lilian Karina verfasstes Buch „Tanz unterm Hakenkreuz“, fungiert heute unter den Program Lecturers an der University of Pennsylvania in Philadelphia – mit zahlreichen Verweisen unter ihrem Namen im Internet und vielleicht ja auch in den Stasi-Unterlagen der Birthler-Behörde. Übrigens gibt es das „Dance Chronicle“ auch weiterhin, in Zukunft herausgegeben von Lynn Brooks und Joellen Meglin.

Dann noch ein Hinweis auf das deutsche „dance for you! Magazin“, das seit einiger Zeit im MIVI Verlag in Schweinfurt erscheint. Es wendet sich offensichtlich vorwiegend an ein jugendliches Publikum und hat inzwischen wohl seine Kinderkrankheiten überwunden. Im Dezemberheft finde ich jedenfalls vier Artikel, denen ich eine breite Leserschaft wünsche – einen über Tigran Mikayelyan, den Münchner Principal aus Eriwan, der zu jenen Ausnahmebegabungen zählt, wie sie die dortige armenische Staatsschule offenbar in jedem Jahrgang hervorbringt (sie tanzen inzwischen als viel bejubelte Stars auch in unseren Kompanien, beispielsweise in Zürich und Hamburg sowie in San Francisco), dann ein Interview von Volkmar Draeger mit Ralf Stabel, dem neuen Direktor der Staatlichen Ballettschule Berlin, über seine Pläne und Vorhaben, und eine englischsprachige Kolumne von Lucia Lacarra, „Daily fight with your own body“. Und dann gibt es noch eine Reportage über die armenische Fünf-Tänzer-Kompanie „Forceful Feelings“. Das addiert sich jedenfalls zu einem ersten substanziellen Informationspaket über diese hoch erfreuliche Entwicklung aus dem fernen Armenien, das mir in einem westlichen Magazin bekannt geworden ist. Sollte mich nicht wundern, wenn Eriwan in nächster Zeit einen ähnlichen Ruf gewinnt als Talentschmiede wie seinerzeit Perm als dort das das Leningrader Kirow-Ballett evakuiert war. Schauen Sie doch mal rein via www.danceforyou-magazine.com.

Zum Schluss noch eine Bemerkung: Nach sechs Tagen Van-Manen-Marathon noch immer nicht übersättigt. Und so habe ich mir zu Weihnachten noch zwei weitere DVDs „reingezogen“, wie das heute so schön heißt. Beide von dem hier schon verschiedentlich erwähnten Junggenie, das so heißt wie der berühmte Flötenlehrer Friedrichs des Großen (und offenbar sogar entfernt mit ihm verwandt ist): dem inzwischen siebenundzwanzigjährigen Kanadier Peter Quanz. Der war bekanntlich beim Stuttgarter Ballett eine Spielzeit als choreografischer Volontär engagiert, hat 2005 in Chemnitz als seinen ersten Abendfüller „Charlies Kreuzfahrt“ herausgebracht, jettet seither zwischen Europa und Amerika hin und her und hat für die Weißen Nächte in St. Petersburg im letzten Sommer Strawinskys „Sinfonie in C“ beim Mariinsky-Ballett choreografiert (mit Valery Gergiev am Dirigentenpult). Und das so erfolgreich, dass er sofort wieder einen Auftrag für ein abendfüllendes Ballett bekommen hat.

Mit gutem Recht, denn als ich jetzt einen DVD-Mitschnitt seiner „Aria Suspended“ (in gleich dreifacher Besetzung) zu sehen bekam, traute ich meinen Augen nicht und glaubte ein mir unbekanntes Ballett von Balanchine zu sehen – dabei keineswegs epigonal, sondern von einer geradezu elektrisierenden Frische, allerdings von gleich nachtwandlerischer Musikalität, brillant strukturiert und mit allerlei Überraschungen aufwartend – für eine Ballerina, drei sehr verschiedene Principals, insgesamt für ein 32 Tänzer-Ensemble. Das handhabt er so professionell und so beeindruckend formklar, dass ich aus dem Staunen nicht herauskam und an ein Zwillingsprodukt zu Balanchines „Sinfonie in 3 Sätzen“ dachte. George Jackson hat es in seinem Bericht in der amerikanischen danceviewtimes.com detailliert beschrieben (auch sonst eine erstklassige Informationsquelle für Reports vornehmlich aus Amerika und London) – und ich kann ihm nur beipflichten.

Ich weiß nicht, wie man an diese DVD herankommt – und auch nicht an die andere, die „Peter Quanz Choreographer“ heißt und Ausschnitte aus acht seiner Ballette bietet (darunter auch „Charlies Kreuzfahrt“ aus Chemnitz und „Summit“, das er für eine der Stuttgarter Noverre-Matineen choreografiert hat, ein Trio mit Katja Wünsche als Ballerina). Interessenten wenden sich am besten an ihn selbst via e-mail: peterquanz@yahoo.ca. Was ich jedenfalls mit Bestimmtheit weiß, dass ich, wäre ich Ballettchef (wovor das Schicksal die Kunstgattung Ballett und das Publikum bewahren möge – ich selbst habe als Grufti – ich schwöre es! – keinerlei derartige Ambitionen) sofort Peter Quanz als Hauschoreograf verpflichten würde (möglichst zusammen mit einem Top-Dramaturgen à la Oberender).

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