Im Vexierspiegel der Zeiten

Wolfgang Schlüters Roman über Rameaus Opéra-ballet „Les Indes galantes“

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Stuttgart, 11/10/2007

Ein Kaleidoskop der Szenen, hin und her springend zwischen dem Jahr 1735, der Uraufführung von Jean-Philippe Rameaus Opéra-ballet „Les Indes galantes“, den vorrevolutionären Unruhen von 1789 und dem Paris von 2003 mit dem politischen Donnergrollen der Banlieue. Strukturiert strikt nach den Formgesetzen eines Opéra-ballet aus dem Dixhuitième der Aufklärung mit Prolog und Quatre entrées, die in Szenen und Divertissements unterteilt sind und mit einer Chaconne enden. Der Titel: „Anmut und Gnade“, der Verfasser: Wolfgang Schlüter, erschienen im Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2007, 359 Seiten, 30 Euro.

Das Ganze ist eine Art Doku-Roman, mit vielen zeitgenössischen Zitaten sowohl aus dem 18. Jahrhundert als auch aus dem Paris unserer Tage (sogar Sarkozy kommt bereits vor), geschrieben in einer sehr preziösen Sprache, mit vielen altertümlichen französischen Wendungen, hochdeutsch, mit jiddischen Einsprengseln und in österreichischem Dialekt. Denn im Mittelpunkt steht eine Pariser CD-Einspielung von Rameaus „Les Indes galantes“ durch ein aus Wien herbeigereistes Ensemble für Alte Musik, Les Encyclopédistes, unter der Leitung eines Dirigenten, in dem unschwer Nikolaus Harnoncourt zu erkennen ist, mit anschließender Bühnenpräsentation in der Opéra Bastille. Erzählt wird aus der Perspektive des musikkundigen Pressereferenten, der bei den Proben dabei ist und dem bei seinen privaten Streifzügen durch Paris (die ihn in die politischen Unruhen verstricken) bei einem Antiquar an der Seine ein Konvolut aus der Entstehungszeit der Oper in die Hände fällt, mit vielen zeitgenössischen Schnipseln.

Der Tanz spielt nur am Rand eine Rolle, trotzdem wirkt der sehr süffige Roman wie ein exakt choreografiertes Ballett über den Streit der Enzyklopädisten im Paris des Ancien Regime zwischen den Anhängern der Konservativen um Lully und den um Rameau gescharten Progressiven, mit all den faszinierenden Persönlichkeiten der damaligen Zeit, mit Rousseau, Diderot, d‘Alembert und den anderen Protagonisten der Aufklärung, mit Abstechern von Paris aus nach Genf, nach Schottland und Irland, auf die Kriegsschauplätze, in die Salons, auf die Straßen und in die politischen Verschwörerkreise. Die damaligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen gespiegelt in den heutigen Verwerfungen und umgekehrt. Es handelt sich um eine tollkühne Montage der Zeiten, landet aber immer wieder in den Diskussionen über das Theater und insbesondere über die Oper, ihre historischen Aufführungsbedingungen und die Versuche ihrer heutigen Realisierung (mit beißender Ironie in der Schilderung der gegenwärtigen postmodernen Produktionsmethoden).

Man bestaunt das ungeheuerliche Wissen des Autors, stöhnt gelegentlich über die ausufernden theoretischen Diskussionen und wird doch mitgerissen vom Erzählstrom der Handlung mit ihren ständig wechselnden Schauplätzen, die einem wie ein rasant geschnittenes Drehbuch zu einem Film vorkommen. In der Tat fühlte ich mich immer wieder wie in einen Film à la Patrick Süskinds „Das Parfüm“ versetzt. Auf jeden Fall versteht es Schlüter, das Interesse an Rameau und seinem Zeitalter, das ja im letzten Jahrzehnt durch die Aufführungen seiner Opern namentlich in Paris und Zürich (darunter nicht zuletzt die Inszenierungen solcher Choreografen wie Mark Morris und Heinz Spoerli in London und Zürich) so enorm zugenommen hat, weiter anzufachen. Vielleicht lässt sich ja John Neumeier bewegen, sich demnächst einmal seiner „Les Indes galantes“ anzunehmen.

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