Das Ballett als Abbild der apostolischen Hierarchie

Zum morgigen 100. Geburtstag von Lincoln Kirstein

oe
Stuttgart, 03/05/2007

Heute, elf Jahre nach seinem Tod, zu seinem hundertsten Geburtstag am 4. Mai, können wir sagen: er war die amerikanische Antwort auf Europas Serge Diaghilew. Die Rede ist von Lincoln Kirstein, dessen Name für immer mit dem New York City Ballet verbunden sein wird – so wie der Name von Diaghilew mit den Ballets Russes. Kirstein entstammte einer Familie deutsch-jüdischer Herkunft, der Vater ein typischer Selfmademan, der es zum Kodirektor von Bostons elegantestem Kaufhaus gebracht hatte, das großbürgerliche Elternhaus ausgesprochen kunstinteressiert. Man lebt auf großem Fuß, unternimmt in jedem Jahr im Sommer die obligatorische Reise nach Europa, bei der der junge Kirstein, aufgeschlossen für die zeitgenössische bildende Kunst und Literatur, interessiert auch am Ballett als Theaterplattform der Avantgarde, leicht Zugang zu den tonangebenden Kreisen in London und Paris findet.

Er dilettiert während seines Harvard-Studiums als Literat, schreibt sein erstes Theaterstück mit vierzehn, malt ein bisschen, nimmt ein paar Ballettstunden, wird 1927 als Zwanzigjähriger Herausgeber der von seinem Vater finanzierten Literaturzeitschrift „Hound & Horn“, für die er so ziemlich die ganze Elite der angloamerikanischen Literatur als Mitarbeiter gewinnt, ruft im folgenden Jahr die Harvard Society for Contemporary Art ins Leben, eine Art Vorläuferinstitut des New Yorker Museum of Modern Art, zu dessen Gründungsmitgliedern er gehört, ist in den Salons von London und Paris ebenso zu Hause wie im heimischen Boston – ein brillanter Redner, der weniger durch seinen Charme als durch sein enormes Wissen und seine Intelligenz die Leute beeindruckt.

Die Übereinstimmungen mit Diaghilew sind allerdings verblüffend, wenn sie auch als Persönlichkeiten gänzlich verschieden strukturiert waren. Diaghilew hat nie Geld besessen und immer von der Hand in den Mund und gefördert durch Mäzene überaus großspurig gelebt. Für Kirstein war Geld nie ein Problem – notfalls sprang der Vater ein. Als einer der ersten der internationalen Society lebte Diaghilew seine Homosexualität voll aus – er kannte da keinerlei Hemmungen, und die Gesellschaft, auch die besonders prüde englische Aristokratie, hat ihn voll akzeptiert. Kirstein war da wesentlich diskreter, verfügte aber durchaus über einschlägige Erfahrungen, hat dann später geheiratet und war offensichtlich bisexuell.

Kirstein war auf seinen Europa-Reisen ein regelmäßiger Besucher der Diaghilewschen Saisons, begann sich besonders für die Ballette des jungen Balanchine zu interessieren, kam mit Romola Nijinsky in Berührung und wurde der Ghostwriter ihrer Nijinsky-Biographie. Stark beeindruckt durch die Pariser und Londoner Saisons von Balanchines Ballets 1933 kam ihm die Idee, Balanchine und ein paar seiner Tänzer nach Amerika einzuladen – er dachte dabei mehr an eine pädagogische Mission, mit „Lecture Demonstrations“, mit ihm selbst in der Rolle eines Instrukteurs. Bei seinen amerikanischen Freunden machte er das nötige Geld locker, Chick Austin vom Wadsworth Atheneum in Connecticut, Amerikas ältestem Museum, überredete er, Räume für Proben und ein Auditorium für Aufführungen zur Verfügung zu stellen, und so segelten Balanchine und seine Equipe im Herbst 1933 über den Atlantik.

Der Rahmen von Hartford, Connecticut, erwies sich schon bald als zu eng, und man übersiedelte nach New York, wo am 1. Januar 1934 die School of American Ballet ihre Arbeit aufnahm, deren Performing Group im Dezember des gleichen Jahres ihre ersten Vorstellungen mit Balanchine-Choreografien gab. Dies war die Geburtsstunde des amerikanischen Balletts. Kirstein war damals 27 Jahre alt. Die folgenden Stationen sind bekannt: Gründung des American Ballet, der Ballet Caravan zur Förderung neuer amerikanischer Choreografie, der Ballet Society, die schließlich im New York City Ballet aufging, die Übersiedelung vom City Center in das eigens für das Ballett gebaute New York State Theater im Lincoln Center, der weitere Ausbau der School of American Ballet, nebenher die Veröffentlichung zahlloser Artikel und Bücher – nicht nur über Tanz und Ballett, sondern auch über Malerei, Architektur, Fotografie, Film, Malerei, Poesie und Politik. Kirstein ruft eine wissenschaftlich ambitionierte Publikationsreihe ins Leben, „Dance Index“, sammelt unermüdlich in allen Teilen der Welt und stiftet seine Sammlung schließlich der New Yorker Public Library, wo sie den Grundstock der Dance Collection bildet.

Diaghilew ist der große Sensualist, der Ermöglicher von Kunst, der unermüdliche Anreger von neuen Werken, die er seinem höchst individuellen Geschmack entsprechend beeinflusst, so wird er zum arbiter elegantiarum der europäischen Society, die seinem Diktat gehorcht. Nie hat er sich darüber Gedanken gemacht, wie es nach seinem Tode weitergehen könne – deswegen war er auch überhaupt nicht daran interessiert, eine Schule aufzubauen, die das Fundament und Nachwuchsreservoir jeder großen Kompanie ist. So lösten sich seine Ballets Russes schlagartig bei seinem Tod 1929 auf, zerstoben seine Tänzer, Choreografen und Ballettmeister in alle Winde – und sorgten so für die unglaubliche Zunahme der Ballettaktivitäten in der ganzen Welt.

Kirstein war dagegen der Aufklärer und Visionär, ein Moralist auch, der Amerika zum Ballett bekehrt hat. Im Gegensatz zu Diaghilew, der der Welt ein Vermächtnis hinterlassen hat, das zwischen „Les Sylphides“ und dem „Feuervogel“ auf der einen und „Apollon musagète“ und dem „Verlorenen Sohn“ auf der anderen Seite ein Repertoire von rund anderthalb Dutzend Balletten hinterlassen hat, die Bestand haben und heute zum Weltrepertoire gehören, hat Kirstein zusammen mit Balanchine der Welt einen Stil beschert, der die Essenz des sich seiner Vergangenheit bewussten klassisch-akademischen Tanzes, der sogenannten Danse d´école, behutsam in die Gegenwart überführt und ihn geschmeidig gemacht hat, für die Symbiose mit alternativen Tanzformen.

Im Grunde war Ballett für Kirstein eine Art Ordnung und „jedwede Ordnung ist die Reflexion einer höheren Ordnung“, wie denn „alle bedeutende Kunst religiöse Kunst“ ist. Es war nur folgerichtig, dass sein Streben nach der vollkommenen Ordnung, die er im klassischen Ballett in ihrer höchsten Form manifestiert sah, ihn zum Übertritt in die katholische Kirche geführt hat. Es war nichts weniger als die apostolische Hierarchie, die das Ballett für ihn verkörperte.

Ein größerer Gegensatz zu Diaghilew, für den das Ballett bei allen Verdiensten, die er sich darum erworben hat, letzten Endes doch nur ein Spielzeug einer müßiggängerischen, hedonistischen Gesellschaft war, ist nicht denkbar. Kirstein hält dagegen: „Mein ganzes Leben dreht sich darum, zu lernen, wie etwas gemacht wird. Was ich am Ballett am meisten liebe, ist nicht, dass es hübsch aussieht. Es ist die Methode, die darin steckt. Ballett handelt davon, wie man sich benimmt!“ Das New York City Ballet feiert Lincoln Kirstein mit einer Tribute Season.

 

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