„Tanz kann mehr verändern als 500 Stunden Mathematik“
Die „Romeo-und-Julia“-Collage des Hamburg Balletts und der Gesamtschule Allermöhe im Rahmen des Projekts „Focus on YOUth“
Er muss ziemliche Qualen gelitten haben in den vergangenen Wochen, Hamburgs Ballett-Intendant John Neumeier. War er doch verantwortlich für das Projekt „Focus on YOUth“ der BürgerStiftung Hamburg (großzügig ausgestattet mit 100.000 Euro von der Haspa Hamburg Stiftung), das so gar nicht seinem Hang zum Perfektionismus entgegenkam: 75 Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Hamburg-Allermöhe im Alter zwischen 10 und 14 Jahren bringen zusammen mit den Elevinnen und Eleven des Ballettzentrums die Ballett-Collage für Kinder „Romeo und Julia – Focus on YOUth“ auf die Bühne der Hamburgischen Staatsoper.
Größer können Kontraste kaum ausfallen. Zwar ist Allermöhe kein sozialer Brennpunkt wie Neukölln in Berlin oder Billstedt in Hamburg, aber auch „gespickt mit Mühseligen und Beladenen“, wie Schulleiter Bernd Martens weiß. Es sind Kinder, die in ihrem Leben noch keine Ballettschuhe gesehen geschweige denn eine Ahnung davon haben, was ein Plié ist oder eine Arabesque, die von Disziplin eher wenig halten und vom Bockprinzip viel, die vor dem Fernseher, dem PC oder dem Gameboy sitzen anstatt sich zu bewegen und Körpergefühl zu entwickeln. Und diese Kinder werden mit den auf Zuverlässigkeit und Selbstbeherrschung (körperlich wie seelisch) getrimmten Schülerinnen und Schülern des Ballettzentrums zusammengespannt, deren junges Leben ums Tanzen kreist und um nichts anderes als Tanzen – das war schon ein Wagnis der Sonderklasse.
Es ist Neumeier hoch anzurechnen, dass er diese Herausforderung trotz aller Bedenken angenommen hat. Lange Zeit war er sehr skeptisch, ob diese „Rhythm-is-it“-Adaption mit dem viel versprechenden Titel „Focus on YOUth“ bei ihm wirklich an der richtigen Adresse ist: „Ich bin Künstler, und das hier ist ein soziales Projekt.“ Und fürs Soziale, das ist bekannt, fühlt sich Neumeier eher weniger zuständig. Außerdem wollte er als Künstler nicht das wiederholen, was andere vorgemacht hatten. Und er wollte seine eigene Ballettschule nicht zugunsten einer normalen Schule vernachlässigen. „Aber eine gute Idee ist eine gute Idee“, meint er, „und dann muss man aus der guten Idee eben etwas Eigenes machen.“
Die Ballettschule muss, so lautet der Auftrag, einmal im Jahr zeigen, was sie kann. Da lag es nahe, das eine mit dem anderen zusammenzuführen. Was also lässt sich innerhalb von gut sechs Monaten mit Schülern erarbeiten, die noch nie etwas von Tanz oder klassischem Ballett gehört und gesehen haben? Es sollte etwas sein, sagt Neumeier, „wo sie ihren Körper spüren können, wo sie etwas vom Konzept Tanz als Kunst erleben“. Aber nicht improvisiert, sondern „in eine Form gegossen, die jederzeit wiederherstellbar und wiederholbar ist und dabei immer besser wird“. Ideen, die für viele Schulkinder ziemlich ungewohnt sein dürften.
Welches Stück aber eignet sich dafür, beiden Seiten Raum zu geben, welches ist ausreichend anpassungsfähig und auch noch einigermaßen zeitgemäß? Ziemlich schnell war klar: „Romeo und Julia“. Als Ballett von Neumeier existiert es bereits, und seine Dramaturgie ist ausgesprochen flexibel. Vor allem aber passt es mit seiner Botschaft – Liebe besiegt jeden Streit und jede Feindschaft – in unsere Zeit und besonders an eine Schule, in der sich viele Nationalitäten mischen. So kommen die Capulets eben aus Polen und die Montagues aus der Türkei. Und die Musik von Prokofjew mixt Neumeier mit Folklore und Simon & Garfunkel, deren Stücke zwar nicht hochmodern sind, aber das „Feeling von ‘Make Love not War’ transportieren, genau wie ‘Romeo und Julia’ selbst“, sagt Neumeier.
Es ist ein Stück, das zwar in der Renaissance angesiedelt ist, das aber auch heute tagtäglich überall passieren könnte. Und: Die Schüler, sagt Neumeier, „können dabei erkennen, dass Tanz nicht nur hübsch anzusehen ist, sondern das eigene Leben prägen und Lösungen auch für die schlimmsten Probleme aufzeigen kann.“ Und damit es nicht so traurig endet, fügt er nach dem Tod von Romeo und Julia noch einen Epilog hinzu, der äußerlich allerdings hart am Rande des Kitsches vorbeischrappt (es hätte diesem Bild gut getan, hier alle drei Schulklassen mit zu integrieren und sei es nur dadurch, dass sie alle einen großen Kreis um die Ballettschüler bilden). In ihrem Kern aber übermittelt diese Szene eine Botschaft, wie sie einfacher und wichtiger nicht sein könnte: Frieden für die Welt.
Aber natürlich klappte bis kurz vor der Vorstellung – wie zu hören war – trotz intensiver Proben mehr oder weniger gar nichts. Aber dann ist am entscheidenden Abend doch alles gut gegangen, die Aufführung war ein Triumph dieser Kooperation der Gegensätzlichkeiten und eine wunderbare Bestätigung, dass es sich lohnt, Jugendliche aus so unterschiedlichen Lagern in einem gemeinsamen Projekt zusammenzubringen. Mehr noch: Die Kinder der drei Schulklassen waren die Stars des Abends – neben dem in seinem hingebungsvollen Ungestüm beeindruckenden Romeo von Alexandr Trusch, der die Publikumsherzen im Sturm eroberte, und der fast noch zu kindlichen Julia des viel versprechenden Tanztalents Fee Lichtenberg sowie dem brillanten Mercutio von Ben Shirit aus den Ausbildungsklassen des Ballettzentrums.
Diese zur besseren Unterscheidbarkeit der Klassen in rote, gelbe und blaue Hosenanzüge gesteckten Kinder haben mit ihrem unbekümmerten Spiel, ihrem Enthusiasmus, ihrer Freude an der Darstellung und den frei gesprochenen Zwischenmoderationen, mit der sie die Handlung erklärten, selbst angestaubten Szenen neuen Charme verliehen. Wenn „bloco trovao“, die mitreißende Samba-Combo der Schule, zu den Kampfszenen zwischen den Häusern Capulet und Montague die Trommeln schlägt, wenn Omid, Violetta und Julian gemeinsam über die Staatsopern-Bühne rappen und die Ungeheuerlichkeit der aufkeimenden Liebe zwischen Romeo und Julia kommentieren („Das glaub ich nicht!“ – „Doch, doch, das stimmt!“ – „Das glaub ich nicht!“ – „Doch, doch, das stimmt!“), wenn ein Junge eine kurze Breakdance-Einlage abliefert, wenn die 6a zusammen mit dem völlig verknallten Romeo zu Simon & Garfunkels „Feelin‘ Groovy“ die Bühne zum Schwingen bringen – dann groovt die Staatsoper mit, und das Gemeinsamkeitsgefühl dehnt sich im ausverkauften Haus bis in die hinterste Reihe des 4. Ranges.
Davon hätte man gern noch mehr gesehen (im zweiten Teil des Stückes dominiert eindeutig die Ballettschule), aber gemessen an der kurzen Zeit, die für die Arbeit an der Gesamtschule Allermöhe zur Verfügung stand, ist das, was jetzt auf die Bühne gebracht werden konnte, eine Riesenleistung, die die Erwartungen weit übertraf und allen Respekt verdient. Nur gut ein halbes Jahr hatten alle Zeit, um diesen Erfolg zu ermöglichen. Seit Oktober 2005 arbeiteten vier Mitarbeiter des Ballettzentrums – die ehemalige Tänzerin Indrani Delmaine, der Solist Yukichi Hattori (der mit Ende der Spielzeit Hamburg verlässt), der Ballettpädagoge Christian Schön und die Dramaturgin Telse Hahmann – mit den Schulklassen.
In der 5e und 6e gab es wöchentlich statt zwei Stunden Sport nun Ballett und Tanz, in der 7a sogar vier Stunden. Die Teilnahme war – anders als bei „Rhythm is it“ – Pflicht. Gerade darauf legte Neumeier großen Wert: „Die Kinder sollen sehen, dass Tanz nicht in einem Elfenbeinturm angesiedelt ist, sondern Teil des Lebens sein kann, für jede und jeden.“ Und so gehörte zum Programm nicht nur das Tanzen selbst mit einfachen Exercises, sondern auch eine Führung durch das Ballettzentrum, die Staatsoper, deren Werkstätten und Kostümabteilung sowie der Besuch einer Vorstellung des „richtigen“ Balletts „Romeo und Julia“.
Aber nicht jeder der Schüler interessierte sich für John Neumeier, Ballett, Tanzgeschichte oder Shakespeare. Ganz zu schweigen von der Bereitschaft, selbst das Tanzbein zu schwingen. Manchmal ließen sich die Kinder nur widerstrebend überzeugen, dass es sich lohnt, Schrittfolgen wieder und wieder zu üben, bis sie wirklich sitzen. Für Ballettpädagogen und Tänzer dagegen sind das ebenso wie Pünktlichkeit und Aufmerksamkeit Selbstverständlichkeiten. Nun mussten die Ballett-Abgeordneten das alles begründen und erklären und lustlose Schüler motivieren. Und vor allem mussten sie sich daran gewöhnen, eine wuselige, quirlige, unruhige und laute Schar vor sich zu haben, die nur schwer zu bändigen ist – eine drastische Umstellung von der absoluten Stille und Disziplin, die am Internat des Ballettzentrums während des Unterrichts herrscht. Aber auch für die Ballettschule selbst war die Aufführung etwas Besonderes: „Selten haben wir an einem Stück gearbeitet, das alle Klassenstufen vereinigt“, sagt John Neumeier. „Und ein abendfüllendes Ballett mit Charakteren, die durch den Abend führen, haben wir mit der Schule noch nie gemacht.“ Da galt es auch abzuwägen zwischen Zumutbarkeit und Überforderung, vor allem für die Darsteller der Hauptrollen, die diese jedoch glänzend meisterten.
Eine noch größere Aufgabe bestand dann darin, beide Seiten – die Allermöhe-Schüler und die Ballett-Eleven – im Stück zusammenzubringen. Zwei Monate lang probten sie gemeinsam. Und alles ging gut. „Es gab keine Arroganz – weder auf der einen, noch auf der anderen Seite“, berichtet Schulleiter Bernd Martens.
So ließ sich tatsächlich umsetzen, was die BürgerStiftung zu Beginn als Leitlinie für das Projekt „Focus on YOUth“ formulierte: „Wir wollen Kinder und Jugendliche erreichen, die aufgrund ihres familiären oder sozialen Hintergrunds selten mit klassischer Musik, Tanz, Oper oder Ballett in Berührung gekommen sind. Wir wollen Musik und Tanz als Medium für die Persönlichkeitsbildung, die Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl und für die Integration nutzen. Wir wollen, dass den Teilnehmern etwas zugemutet wird, wozu sie selbst nicht den Mut haben, was sie sich selbst nicht zutrauen. Junge Menschen sollen sich freiwillig einem hohen Anspruch stellen. Das bedeutet: Frustration aushalten, Anstrengung durchstehen, um das gemeinsame Ziel einer professionellen Aufführung zu erreichen.“ Ein Erfolg, der sowohl die Hamburger Kultursenatorin Karin von Welck als auch Schulsenatorin Alexandra Dinges-Diering einmütig zu der Zusicherung hinriss: „Das war nur ein Anfang. Wir machen ganz bestimmt weiter.“ Bernd Martens vernahm es mit Freuden. Er plant, den Tanzunterricht regulär in den Stundenplan mit aufzunehmen, um den begonnenen Faden fortzuspinnen. Denn: „Dieses Projekt hat das Leben der Schüler mehr verändert als 500 Stunden Mathematik“, resümiert Martens seine Erfahrungen. „Die Kinder haben gelernt, an sich selbst und ihre Kraft zu glauben. Und die Erkenntnis: Wenn man gemeinsam etwas zustande bringen will, müssen alle am gleichen Strang ziehen – die bleibt fürs Leben.“
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