Tore in die Unendlichkeit

Neuzeit in Chemnitz mit „Aschenbrödel“, in Magdeburg mit „Requiem“

Chemnitz und Magdeburg, 04/12/2006

Neue künstlerische Leiter bergen Chancen für einen Aufbruch ins Ungewagte. Im Fall Chemnitz wurde zu dieser Saison außer Torsten Händler als Chefchoreograf auch sein Ensemble komplett ausgewechselt. Lode Devos, der Nachfolger ohne choreografische Verpflichtung, lud als ersten den Brasilianer Antonio Gomes ein, mit „Aschenbrödel“ die Neuzeit einzuleiten. Gomes sucht der Geschichte eigene Akzente abzuringen, führt die Figur der Zeit ein, personifiziert Besen, Lappen, Eimer, Schwamm als Aschenbrödels Requisiten, bemüht 12 schwarz Gewandete, um dem Mädchen klarzumachen, dass um Mitternacht der Ball für sie enden muss. Barfuß wird getanzt in einem angeschrägten Bühnenbild (Ingomar), das wie ein Tunnel, im 2. Akt wie die Schwebedekoration einer Astroshow wirkt – in Kostümen (Christine Devos), die ebenso wenig das Märchen vom misshandelt erhobenen Stiefkind bedienen wie die Choreografie.

Die kommt schwer in die Gänge und tritt geschlagene drei Stunden, unter Öffnung aller möglichen musikalischen Striche, uninspiriert und schwunglos auf der Stelle. Mats Ek scheint Pate gestanden zu haben, doch fehlt es Gomes an dessen Originalität, die Story wirklich umzubürsten.

Unverständlich, trotz sechsseitiger Inhaltsangabe im Programmheft, und schon gar nicht kindgemäß, schleppt sich die Handlung hin. Der Tanz aus dürftigem Vokabular hat weder Zauber noch Witz, lässt keinerlei Funken ins Auditorium überspringen, ist teils ungeschickt inszeniert, ohne Fluss, unmusikalisch, disharmonisch choreografiert. Die 22-köpfige Tänzermannschaft wirkt erschreckend persönlichkeitsarm und bleibt ihre Vorzüge schuldig. Mit diesem sterbenslangweiligen, trocken zerturnten „Aschenbrödel“ ohne Relief und den Atem zur klaren, großen Form ist das Ballett Chemnitz ein choreografischer Problemfall geworden.

Weniger radikal verlief der Wechsel in Magdeburg, wo seiner Vorgängerin Irene Schneider nun Gonzalo Galguera auf dem Direktorenstuhl nachfolgte und die vorhandene Kompanie reformierte. Nach dem Mehrteiler „Credo“ noch als Gast stellte er mit „Requiem“ seine erste Choreografie in neuer Verantwortung vor. Den Mozartschen Torso ergänzt hier das von Sigismund Ritter von Neukomm hinzukomponierte „Libera Me Domine“. Die Zusammenarbeit mit Chor und Gesangssolisten, neben den Musikern im Orchester platziert, steht symbolisch für ein gemeinsames Wollen der Sparten. Eine fest umrissene Fabel erzählt die anderthalbstündige Uraufführung nicht, kreist mit sinfonischem Gestus vieldeutig um Themen wie Tod, Leid, Gewalt. Juan Léon hat dafür die imposante Bühne entworfen: ein gekipptes Tor in die Unendlichkeit, dahinter eine Grabplatte mit differenziert ausleuchtbarem Kreuz. Unter orangefarbenem Stoff liegen im Anfangsnebel die Tänzer, streifen allmählich das Tuch wie irdische Hüllen ab, tragen Schwarz mit rot aufgenähtem Kreuz. Verzweifelt und unsicher trennen sich die Zweierwesen des Beginns.

Einem Quartett mit überkreuz verschränkten Armen folgt mit fliegenden Hebungen und Transporten das von sechs Männern accompagnierte Leidsolo einer Frau. Wie Adam strahlt ein fast nackter Jüngling in die Welt, eine mitleidlose Gesellschaft misshandelt ihn brutal. Drei Engel des Mit-Leids in schwingenden Röcken tanzen zum Lacrimosa seinen Schmerz; als lange Röhren herabfahren, setzen sie ein Glockenspiel in Gang. Das lässt die Menschen die Friedensidee des Jungen aufgreifen. Da rollen, und hier wird die Choreografie doch konkret, fünf Flachkäfige zum Halbrund, an deren Draht Gefangene hängen. Zwei der Engel halten sich die Augen zu, einer schleudert seinen Zorn heraus. Dunkler Tüll verhüllt die Gesichter geknebelter Menschen unter bedrohlichen Langgittern. Es siegt tröstende Endlichkeit: Das Kreuz schmückt Oberköper respektive orangefarbenes Maillot.

Anspruchsvolle Technik neoklassischen Zuschnitts auf Spitze hat der Choreograf seinen Interpreten verordnet. Besinnlich Feines in kleiner Besetzung dominiert übers große Tableau. Nicht immer jedoch formt sich der Tanz zum Bild, findet die Gruppe zu synchroner Ausführung. Galguera selbst gestaltet ausdrucksstark den Zornesengel, in Veronika Zemlyakova hat das 19-köpfige magdeburg ballett eine junge Ballerina mit Zukunft.

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