Verschwörung in St. Petersburg?

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Stuttgart, 04/02/2004

Den letzten Tänzeraufstand in St. Petersburg hatte es zu Weihnachten 1999 gegeben, als eine Gruppe älterer Solisten des Mariinsky-Balletts – darunter Julia Machalina, Igor Zelensky und Faruch Ruzimatov – gegen die Politik des Künstlerischen Direktors Makhar Vaziev opponiert hatte. Anfang 2000 schien der Konflikt beigelegt und die Kompanie und ihre Tänzer heimsten auf ihren zahlreichen Auslandstourneen neue Lorbeeren ein – besonders für ihre Rekonstruktionen der sogenannten Originalchoreografien von Petipas „Dornröschen“ und „Bayadere“ sowie für ihre Übernahmen aus dem Balanchine-Repertoire. Offenbar hatte Valery Gergiev, als Direktor des Mariinsky-Theaters heute der mächtigste Theatermann Russlands, eingegriffen und die aufmüpfigen Senioren ruhiggestellt.

Vaziev sicherte seine Position durch ausgiebige Interviews, die ihm namentlich in Amerika und England viele Sympathien einbrachten. Bisher war nichts in die Öffentlichkeit gedrungen, was darauf schließen ließ, dass es unter der beruhigten Oberfläche weiter gärte. Jetzt allerdings berichtete die englische „Dancing Times“, die in jeder ihrer Ausgaben einen „Letter from St. Petersburg“ ihres ortsansässigen Korrespondenten Igor Stupnikov bringt, in ihrem Februar-Heft über eine Pressekonferenz Gergievs im Dezember, in der er sich zu Plänen über den Neubau des Theaters und seinen Repertoirevorstellungen für die Opern- und Ballettkompanien äußerte.

Dabei wurde er auch gefragt: „Stimmt es, dass der Ballettdirektor des Mariinsky, Makhar Vaziev, das Theater verlässt und dass die frühere Primaballerina Altynai Asylmuratowa, gegenwärtig Direktorin der Waganowa-Akademie, an seine Stelle tritt?“ Darauf Gergiev: „Sie haben mir eine sehr schmerzliche Frage gestellt. Zur Zeit ist eine legale Entscheidung nicht gefallen, lassen Sie mich Ihnen Folgendes zur Antwort geben: Wir sind gegenwärtig nicht zufrieden mit dem laufenden Betrieb der Ballett-Administration. Uns missfällt ihre Haltung sowohl was die Kompanie als Ganzes als auch den Stars gegenüber betrifft. Ich habe nie einen direkten Kontakt mit dem Ballett gehabt, doch ich spüre die Atmosphäre insgesamt und die Disposition der Tänzer. Und die bereiten mir beträchtliches Unbehagen. Wir müssen die Repertoirepolitik ändern und neue Choreografen einladen. In einem Wort: wir brauchen eine neue Perspektive. Ich hoffe, dass das Problem in naher Zukunft mit der Hilfe von Uljana Lopatkina, Diana Vishneva und anderen Stars gelöst werden kann. Generell dürfen wir nicht zulassen, dass der Standard der legendären Kompanie weiter absinkt („We can't allow the standards of the legendary company to go any lower“). Ich werde oft gefragt, warum wir nicht interessante und kontroverse westliche Choreografen einladen. Und William Forsythe? Seine Ballette (‚Steptext‘ und ‚In the Middle Somewhat Elevated‘) haben im März am Mariinsky Premiere. Unglückseligerweise gibt es keinen jungen Grigorowitsch in unserem Land. Ich mache mir Sorgen über das Niveau der zeitgenössischen Choreografie in Russland. Seit vielen Jahren bin ich am Ballett interessiert. Vor 25 Jahren ging ich diverse Male ins Kirov-Theater und habe mir Roland Petits ‚Notre-Dame de Paris‘ angesehen. Warum haben wir keinen Choreografen seines Kalibers in Russland? Moderne Choreografie kann heutzutage viel besser getanzt werden als ehedem. Uljana Lopatkina war brillant in zeitgenössischen Balletten und wir sollten Dutzende von Balletten für sie verfügbar haben. Doch verfügen wir über Choreografen, die zu Recht verdienten, Ballette fürs Mariinsky zu kreieren? Alexei Ratmansky wurde ans Bolschoi eingeladen, und ich wünsche ihm jeglichen Erfolg, weil sein Erfolg für ganz Russland wichtig ist. Und wer könnte den Posten eines Chefchoreografen am Mariinsky übernehmen? Wenn eine solche Persönlichkeit gefunden werden kann, werde ich zu ihm gehen und mit ihm sprechen – auch wenn er jünger ist als ich!“

Kommt demzufolge eine Frau als Chefchoreografin für das Mariinsky überhaupt nicht in Frage?

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