Nancy Reynolds & Malcolm McCormick: „No Fixed Points - Dance in the Twentieth Century“

Teil I

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Stuttgart, 09/08/2004

Ein Wälzer, 907 Seiten stark, zahlreiche Abbildungen (die meisten ziemlich graustichig) – das ist „No Fixed Points – Dance in the Twentieth Century“ von Nancy Reynold und Malcolm McCormick, erschienen bei Yale University Press, 2003, ISBN 0-300-09366-7, $ 50.00 beziehungsweise £ 35.00. Der Titel bezieht sich auf einen Ausspruch von Merce Cunningham, der wiederum Albert Einstein zitiert: „There are no fixed points in space“. Der Untertitel beschreibt exakt den Inhalt – es handelt sich um einen Überblick über die Entwicklung von Ballett, Modern Dance und Avantgarde-Tanz für Bühne und Leinwand in Europa und Nordamerika im 20. Jahrhundert, inklusive Pop, Show, Step und Jazz. Die Verfasser sind beide Amerikaner, Reynolds ist auch bei uns bekannt als Autorität über das New York City Ballet und als Mitherausgeberin der „International Encyclopedia of Dance“. Dies ist ein aus amerikanischer Sicht geschriebenes Buch, doch die beiden Autoren kennen sich auch auf der europäischen Szene bestens aus, und man muss ihnen bescheinigen, dass sie, soweit das überhaupt möglich ist, die Entwicklungen erstaunlich objektiv bewerten und einordnen.

Die Stofffülle ist überwältigend – es ist sozusagen Jochen Schmidts „Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band“ hoch zwei – entsprechend mit dem doppelten Umfang (und offenbar viel weniger Druckfehlern). Ich bin voller Bewunderung, was sie alles auf diesen knapp tausend Seiten untergebracht haben, inklusive der exakt nachgewiesenen Quellen und einem über fünfzig Seiten umfassenden Index). Es ist kein Buch, das man hintereinander durchliest. Das habe auch ich nicht getan. Eher ein Buch zum Nachschlagen, wobei man sich unweigerlich festliest und dann vom Hundertsten ins Tausendste gerät. Wie beim Zappen oder Surfen im Fernsehen.

Und so geht es denn also in 17 Kapiteln quer durch das ganze Jahrhundert. Es beginnt mit „New Dance: American Pioneers“ – darin werden behandelt: Vaudeville and spectacle extravaganza – exercise and dress reform – Fuller, Duncan und Denishawn. Im 2. Kapitel geht es weiter mit „Experimentalism in Ballet: Diaghilev, Fokine, and the Russian Legacy“. Und im dritten sind wir dann bereits bei „Modernism Revealed: Ausdruckstanz, the Dance of Expression“ angelangt – wo Laban, Wigman, Schlemmer and the Bauhaus, Solo Concert Dancers, Kreutzberg and Georgi, Jooss, Ausdruckstanz und National Socialism unter die Lupe genommen werden.

Die weiteren Kapitel sind überschrieben „Ballet Comes to America“ (4), „America After Denishawn: The Heroic Age of Modern Dance“ (5), „Ballet in Western Europe: The Rise of National Traditions“ (6), „A World Apart: Dance in Russia and the Soviet Union“ (7), „Ballet in America Comes of Age“ (8), „Modern Dance: The Second Generation“ (9), „Schism and Transition: Reinterpreting Modern Dance“ (10, u.a. Cunningham, Hawkins, Nikolais/Louis, Taylor, Waring), „Beyond the Boundaries: Postmodernism“ (11, Precursors, Robert Dunn and the Judson Church, new spaces, Halprin/Rainer, Paxton and contact improvisation, Brown, Monk, Childs, early Tharp), „Internationalism: The Merging of the Disciplines“ (12, u.a. Cullberg/Butler/Tetley, Béjart, van Manen/van Dantzig/Kylián, Neumeier/Forsythe, Alston, Flindt, Arpino, Feld, Lubovitch, Goh, prime Tharp, crossover ballets), „Ballet Rising“ (13, u.a. Nureyev/Makarova/Baryshnikov – revival of full-evening classics, Cranko/MacMillan, the dominance of Balanchine), „Ballet's High Tide“ (1960-2000; 14).

Die drei verbleibenden Kapitel befassen sich dann mit „Late Modernism: Pluralism and the Ascendancy of Style“ (hier u.a. auch Bausch; 15), „Musical Theater in America“ (16) und „Dance in the Movies“ (17). Wie gesagt: die Informationsfülle ist geradezu sinnverwirrend – doch die Autoren schaffen es, Sinn zu stiften, Zusammenhänge plausibel darzustellen, und sie schreiben in einem flüssigen und anschaulichen Stil, so dass das Lesen ausgesprochen Vergnügen bereitet, einmal ganz abgesehen davon, was das Buch an Informationen vermittelt. Empfohlen mit großem Nachdruck! Ich möchte noch ein zweites Mal darauf eingehen – und zwar unter dem Gesichtspunkt: wie sehen die beiden amerikanischen Autoren die Entwicklung in Deutschland, wie gewichten sie den deutschen Beitrag zur Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts. Fortsetzung folgt!

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