„Liebe Hanya Mary Wigman's Letters to Hanya Holm“

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Stuttgart, 14/06/2004

Nein, die Mary-Wigman-Biografie braucht nicht neu geschrieben zu werden! Dafür sorgt Hedwig Müllers gründlich recherchierte „Mary Wigman: Leben und Werk der großen Tänzerin“ aus dem Jahr 1986. Aber sie ist doch um ein gewichtiges Kapitel zu ergänzen, beruhend auf dem jetzt publizierten Paperback „Liebe Hanya – Mary Wigman‘s Letters to Hanya Holm“, compiled and Edited by Claudia Gitelmann, with an Introduction by Hedwig Müller, Letters Translated by Marianne Forster and Catherine T. Klingler, Additional Translation by Shelley Frisch and Joanna Ratych, erschienen in der Serie Studies in Dance History der University of Wisconsin Press, 2003, ISBN 0-299-19074-9, www.wisc.edu/wisconsinpress.

Die etwas umständlichen bibliografischen Angaben machen schon deutlich: dies ist eine englischsprachige Ausgabe der deutschsprachigen Briefe, die Mary Wigman zwischen 1920 und 1971 an Hanya Holm geschrieben hat. Sie war siebenundzwanzigjährig 1920 zu ihr in Dresden gestoßen und wurde Wigmans Assistentin. Mit dem Aufbau einer Filiale der Wigman Schule in New York beauftragt, wurde sie neben Martha Graham, Doris Humphrey und Charles Weidman zu einer der „Big Four“ des amerikanischen Modern Dance und machte sich dann 1936 selbständig, was aber an ihrem engen Verhältnis zu ihrer sieben Jahre älteren Weggefährtin in Dresden nichts änderte. Sie unterrichtete – auch später in ihren berühmt gewordenen Sommerkursen in Colorado Springs – so prominent gewordene Choreografen wie Alwin Nikolais und Glen Tetley, choreografierte große Gruppenwerke und errang schließlich als Choreografin der Musicals „Kiss Me, Kate“, „My Fair Lady“ und „Camelot“ Weltruhm. Wigman starb 1973 in Berlin, Holm, neunundneunzigjährig 1992 in New York.

Es handelt sich um 146 Briefe ohne Antwort – Holms Briefe an Wigman, die es in offenbar gleicher Fülle gegen hat, sind nicht bekannt – oder zumindest bisher nicht aufgefunden worden. Sie werden ergänzt durch ein paar zusätzliche Briefe und vor allem durch überaus hilf- und informationsreiche Fußnoten, die sich genauso spannend lesen wie die Briefe selbst, die übrigens so fabelhaft übersetzt worden sind, dass ich sie im Geiste im deutschen Original gelesen habe.

Es sind die bewegendsten 240 Seiten, die ich in den letzten Jahrzehnten über eine Persönlichkeit des Tanzes gelesen habe – so dass ich ihrem Ende nicht fiebernd, sondern voller Trauer entgegen gesehen und es immer wieder hinausgezögert habe. Sie stammen aus den Dresdner Anfangstagen, berichten über die drei erfolgreichen Amerika-Tourneen, dann über die Verdüsterungen während der Nazi-Zeit, über die Schließung ihrer Dresdner Schule und ihrer Übersiedelung nach Leipzig, über die entbehrungsreichen Nachkriegsjahre im Leipzig der DDR und ihren abermaligen Wohnsitzwechsel nach West-Berlin, über die nicht weniger schwierigen Jahre des Neuaufbaus ihrer dortigen Schule (mit überwiegend ausländischen Studenten) und über ihren späten Ruhm und die vielerlei Ehrungen, die sie, geplagt mit den zunehmenden Beschwernissen des Alters, erfuhr.

Sie ergänzen unser Bild von der Hohepriesterin des deutschen Ausdruckstanzes um eine Vielzahl von persönlichen Zügen – es sind so viele, dass ich allein zu ihrer Aufzählung eine doppelte kj-Länge brauchte. Vor allem beeindruckt hat mich die unendlich abgewandelte Bekundung ihrer Freundschaft zu Holm, ihre grenzenlose Empathie für die ihr Nahestehenden (besonders für Hesschen, alias Anni Hess, ihre lebenslange Haushälterin seit 1923) und ihre Schüler, aber auch ihre Liebe zur Natur, zu den einfachen Dingen des Lebens, den Wechsel der Jahreszeiten, den Zyklus der wiederkehrenden Feste (besonders zu Weihnachten), ihre unendliche Dankbarkeit für ihr erwiesene Wohltaten in den schlimmen Kriegs- und Nachkriegszeiten, ihre herzliche Anteilnahme am Schicksal der Personen, denen sie begegnet ist und die, je älter sie wurde, aus der ganzen Welt zu ihr strömten, um von ihren Erfahrungen zu profitieren und ihren Rat zu suchen.

Ich hüte mich im allgemeinen vor Superlativen – trotzdem möchte ich behaupten, dass dies das menschlichste Buch ist, das ich je über eine Persönlichkeit des Tanzes gelesen habe. Ich finde, dass uns Klaus Kieser eine deutsche Originalausgabe dieser einzigartigen Briefe schuldig ist (und hoffe, dass doch noch irgend eines Tages die entsprechenden Briefe von Hanya Holm auftauchen).

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