Fondation Jean-Pierre Perreault mit „Joe“

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Ludwigsburg, 09/06/2004

Da ist den Ludwigsburgern zum Auftakt ihrer Tanzveranstaltungen im Rahmen der diesjährigen Schlossfestspiele ein regelrechter Coup gelungen: die deutsche Erstaufführung von „Joe“ durch die Fondation Jean-Pierre Perreault im Forum am Schlosspark. Es ist die Signaturproduktion der dreißigköpfigen kanadischen Kompanie. Sie stammt in ihrer heutigen Form aus dem Jahr 1984 und hat bei den Gastspielen der Truppe überall für Furore gesorgt – und das jetzt auch in Ludwigsburg.

Perreault ist Ende 2002 an Krebs gestorben, doch unvermindert scheint sein Geist die Tänzer zu inspirieren. Unter den kanadischen Choreografen dürfte er die Elementarkraft gewesen sein – zu vergleichen noch am ehesten seinem Kollegen Edouard Lock von den La La La Human Steps, aber weit weniger virtuos-artistisch als der. Eher erinnert er mit seinen kompakten Marschformationen und dem lautstarken Gestampfe ihrer schweren Stiefel bei uns an den Schauspielregisseur Einar Schleef. Perreault sah sich selbst mehr als visueller Künstler denn bloß als Choreograf. Zeichner, Architekt, Raumgestalter, Kostümdesigner, näherte er sich den Tänzern und deren Tanz von außen und ließ ihn in den Raum explodieren – eine Gesellschaft, die auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden ist, und in der sich jedoch jeder als Individuum zu behaupten versucht, immer wieder auszubrechen versucht, um immer wieder von ihr vereinnahmt zu werden.

Sie tragen alle die gleichen Kleider, schwarze Anzüge und Mäntel, weiße Hemden und Krawatten, mit aus den Ärmeln hervorragenden Manschetten und tief ins Gesicht gezogenen Hüten und eben den schweren Schnürstiefeln – und sind nicht länger als Männer und Frauen zu unterscheiden. Wenn sie anfangs regungslos als gewaltiger Pulk in der Ecke stehen, vor der Schrägwand, die sie später immer wieder zu erklimmen versuchen, und von der sie immer wieder zurückgeworfen werden, wirken sie wie ein Pulk von Auswanderern. Vielleicht waren es ja die langen schwarzen Mäntel und die Hüte, die sie mir wie eine Gruppe von Juden in der Diaspora erscheinen ließen. Auch in den folgenden 70 Minuten suggerierten sie mir wiederholt jüdische Bewegungsbilder – ohne dass ich jüdische Folkloreformen hätte dingfest machen können. Und kurz vor Schluss gibt es dann eine hinreißende, in gleißendes Sonnenlicht getauchte Linienformation, in der sie uns den Rücken zukehren, mit angewinkelten Armen, und den nackten Händen, die aus ihren weißen Manschetten herausragen – da hatte ich den Eindruck, als ob sie ihre Ankunft im gelobten Land feierten und einen einzigen, gewaltigen, vielarmigen Leuchter bildeten. Aber vielleicht ist da ja auch bloß meine Fantasie mit mir durchgegangen.

„Joe“, das bedeutet im Kanadischen so viel wie Otto Normalverbraucher. Doch diese Masse von Normalverbrauchern fungiert als Knetmasse von lauter Einzelschicksalen und jeder und jede ist von einem Hauch von Einsamkeit umgeben. Und von einer großen Einsamkeit künden auch die Harmonien, die einer als Achse des Stücks auf seiner Mundharmonika bläst. Und einsam bleibt jede und jeder, wenn sie in einem crescendierenden Sprechchor gegen die Lautlosigkeit ihrer Umgebung anschreien. Ein überwältigender Eindruck, die physisch so ganz und gar verschiedenen Mitglieder dieser Fondation Jean-Pierre Perreault – von dem ich mir nach dieser Produktion allerdings überhaupt nicht vorstellen kann, wie denn seine sonstigen Choreografien aussehen mögen. (In Berlin bei Tanz im August am 13. und 14., in Hannover beim TANZtheater International am 3. und 4. September, im Leverkusener Forum am 3. Oktober und bei Kampnagel in Hamburg vom 6. bis 9. Oktober).

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