Die internationale Kritikerumfrage - im Jahrbuch von „ballettanz“

oe
Stuttgart, 30/08/2004

Da ist sie nun also wieder, die alljährlich mit Spannung erwartete Kritikerumfrage nach den „Winners“ und den „Hoffnungsträgern“. Und niemand, auch nicht die Skeptiker und Verweigerer des Unternehmens, kann mir weismachen, dass er oder sie nicht neugierig darauf ist. Dreißig Personen insgesamt sind befragt worden, darunter dreizehn Frauen – und eine/einer aus Finnland, bei dem ich mir nicht darüber im Klaren bin, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Das ist also ein durchaus faires Geschlechterverhältnis, meine ich. Interessant finde ich, wer denn nicht befragt worden ist – aber da weiß man nicht recht, ob es sich möglicherweise um einen Verweigerer handelt. So bedauere ich, dass der Berliner Patriarch unter den Kollegen nicht vertreten ist, und vermissen tue ich auch den von mir hochgeschätzten Kollegen aus Zürich. Bedenklich scheint mir, dass nur ein Repräsentant aus den neuen Bundesländern dabei ist. Dabei frage ich mich, ob die nicht Vertretenen wohl nun frustriert sind – oder sagen sie sich stolz, dass ihnen die ganze Umfrage ohnehin suspekt erscheint, und dass sie, hätte man sie gefragt, nicht geantwortet hätten (wie ich das von einer Münchner Kollegin annehme)?

Sieht man sich die Ausgewählten nach ihrer Herkunft an, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, Berlin ist die Hauptstadt des deutschen Tanzes: fünf Kritiker aus Berlin stehen zwei aus München gegenüber und immerhin noch je einem/einer aus Düsseldorf, Frankfurt und Hamburg – und keiner aus Stuttgart! An ihren Kritikern sollt ihr sie erkennen! Zehn Kategorien zwischen „Wichtige Produktion“ und „Ärgerliches Tanzereignis“ standen zur Auswahl. Das ergibt also alles in allem dreihundert mögliche Nominierungen – ein paar Auslassungen sind dabei, auch ein paar Doppel-Nominierungen. „And the Winner is“: natürlich William Forsythe und das Ballett Frankfurt, die in allen Kategorien genannt werden (auch unter den Ärgernissen – allerdings ja eher positiv als „Das unwürdige Ende des Ballett Frankfurt“). Wenn ich mich nicht verzählt habe, kommen sie zusammen auf achtzehn Nominierungen (inklusive der Einzeltänzer).

Lustig finde ich immer wieder die gegensätzlichen Bewertungen. So firmiert aus Berliner Sicht Meg Stuarts „Forgeries, Love, and other Matters“ unter den Ärgernissen, während man in Frankfurt Stuart zu den herausragenden Choreografen zählt. Ähnlich verhält es sich im Falle Mikhail Baryshnikov, der in Düsseldorf unter den ärgerlichen Ereignissen rangiert, während München ihn nach wie vor zu den Tops zählt (so übrigens auch bei der Bill T. Jones Company – für Toronto das „wichtigste Ensemble“, für Berlin ein Ärgernis). Arm sind natürlich die Kollegen dran, die, aus welchen Gründen auch immer, kaum aus ihrem Land heraus kommen, was im Falle der Korrespondentin aus Athen zu acht griechischen und bei ihrer Kollegin aus Stockholm zu neun schwedischen Nominierungen geführt hat.

Dass sich der Mann aus New York inklusive der negativen Einschätzung zehnmal auf amerikanische Ereignisse bezieht, überrascht mich – und eigentlich doch nicht, da ich der Überzeugung bin, dass die amerikanische Tanzkritik chauvinistischer ist als ich das insgesamt von den europäischen Kollegen behaupten würde. Einige wenige Male habe ich denn doch den Kopf geschüttelt. Zum Beispiel bei der Nominierung des Stuttgarter Balletts als wichtigstes Ensemble – ausgerechnet aus Frankfurter Sicht von jenem Mann, der als eine der internationalen Forsythe-Autoritäten gilt. Und erleichtert war ich, Uwe Scholz nicht unter den „Ärgerlichen Tanzereignissen“ genannt zu sehen (wo lediglich die drohende Abwicklung der Leipziger Ballettschule registriert wird). Und was können wir daraus lernen? Dass eben doch jede Kritikerin und jeder Kritiker seine sehr eigene Meinung hat. Und das finde ich auch gut so!

Kommentare

Noch keine Beiträge