Bilanz der Spielzeit 2003/04 - aus der Perspektive des kj

oe
Stuttgart, 03/09/2004

Eine mittelprächtige Saison, alles in allem, diese Spielzeit 2003/04, wenn ich so, vor meinem Computer sitzend, die Ereignisse rekapituliere – bei denen ich dabei war. Und die, bei denen ich nicht dabei war? Waren die etwa weniger wichtig? Über die ich nur gelesen und gehört habe? Habe ich etwas versäumt, etwa in Moskau Radu Poklitarus „Romeo und Julia“ oder Mark Morris‘ „Sylvia“ in San Francisco, beziehungsweise Vladimir Malakhovs „Cinderella“ in Berlin (die ich nur als TV-Aufzeichnung gesehen habe – ohne nachträglich zu bedauern, die Live-Version nicht gesehen zu haben, trotz der wunderbaren Polina Semionova). Nein, DAS internationale Top-Ereignis, bei dem ich liebend gern dabei gewesen wäre, ist mir nicht bekannt.

Das deutsche Top-Ereignis waren dagegen für mich eindeutig die 30. Hamburger Ballett-Tage – man bedenke: 22 Tage mit 16 unterschiedlichen Programmen, die meisten Abendfüller, made by John Neumeier. Das hat es nie zuvor in Deutschland gegeben. Umso unverständlicher ist das schwache publizistische Echo, aber das hat mit dem alarmierenden generellen Rückgang der Tanzberichterstattung in den diversen Medien zu tun. Und niemand kann mir weismachen, dass das eine Folge der allgemeinen Sparsamkeitsauflagen und der eingeschränkten Reisemöglichkeiten der Kritiker ist. Eher scheint mir das generelle Desinteresse der Kulturchefs am Tanz und ihre Missachtung der Ausgewogenheit des Informationsangebots schuld daran zu sein. Hoch erfreulich dagegen das Engagement des Volkswagenwerks in Wolfsburg für den Tanz mit dem schon zum zweiten Mal veranstalteten movimentos-Tanzfestival, das ein erstaunlich großes neues Publikum für den Tanz – eben: mobilisiert hat – und mit der (hoffentlich nicht nur einmaligen) Auslobung des stattlich dotierten movimentos-Tanzpreises. Und hier gab es auch das poetischste Stück dieser ganzen Saison zu sehen: Lin Hwai-mins „Cursive II“.

Und die herausragenden Einzelereignisse? Für mich primär Pina Bauschs neues „Ten Chi“. Und Christian Spucks Stuttgarter „Lulu. Eine Monstretragödie“? Sicher, für ihn ein gewaltiger Schritt voran (wichtiger als in Essen „Die Kinder“), vor allem wegen der geradezu soghaft eskalierenden Massenensembles, aber doch mit erheblichen Defiziten, was die Profilierung der einzelnen Charaktere und Lokalitäten betrifft. Beeindruckt haben mich aber auch zwei weitere Geschichtenerzähler (auch wenn das Geschichtenerzählen heutzutage für manche Kollegen obsolet ist): Peter Breuer mit „The Wall“ in Salzburg (viel markanter durchcharakterisierte Rollen als bei Mario Schröder in seiner Essener Version) und der offenbar hoch begabte Jörg Mannes mit „Liaisons dangereuses“ in Karlsruhe. Geradezu elektrisierend das enigmatische „Orma“ von Mauro Bigonzetti und das funkensprühende „Hikarizatto“ von Itzik Galili, beide in Stuttgart – wo schon der nächste choreografische Newcomer in der Kulisse steht: Marco Goecke. Und noch eine überraschende choreografische Nachwuchsbegabung: die blutjunge Nina Kripas mit ihrem japanisch timbrierten „The Nobility of Failure“ bei der abcdancecompany in St. Pölten.

Respekt für die kontinuierliche, exzellente Arbeit auf hohem künstlerischen Niveau bei Martin Schläpfer in Mainz und bei Heinz Spoerli in Zürich. Sehr erfreulich der überaus erfolgreiche, vom Publikum glänzend honorierte Start von Birgit Keil in Karlsruhe: eine junge Kompanie, die Tanzlust aus allen Poren versprüht! Weitere markante Ereignisse: die unendliche Geschichte der Abwicklung von William Forsythes Ballett Frankfurt – der Abschied vom BerlinBallett an der Komischen Oper und die Demenz des Balletts der Deutschen Oper Berlin. Das hochdramatische Comeback von Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ in Stuttgart mit Alessandra Ferri und dem Senkrechtstarter Jason Reilly – die überaus liebenswerte und dazu ungemein ausdrucksvolle Polina Semionova an der Berliner Staatsoper. Meine beiden ganz persönlichen deutschen Top-Kompanien: das Hamburg Ballett (in puncto Ballettkultur) und das Stuttgarter Ballett (nicht zu bremsen in seiner tänzerischen Bravour). Die leider überhaupt nicht ihrer Bedeutung angemessene publizistische Würdigung der Ausstellung „Krokodil im Schwanensee“ in der Berliner Akademie der Künste. Drei Fernsehproduktionen: das Portrait Martin Schläpfer, ein Film mit Anna Huber in diversen Berliner architektonischen Environments und der Film über die Hamburger Bubeníček-Zwillinge.

Die amerikanische Buchveröffentlichung der tief bewegenden Briefe Mary Wigmans „Liebe Hanya“ (Holm). Der Tanzsturz (wenn ich das mal in Analogie zum Hörsturz so nennen darf) von Uwe Scholz – die leerlaufende Betriebsamkeit der großen Opernballette von Dresden, Leipzig, München und Wien. Nach allem, was ich so gelesen und gehört habe, hätte ich gern gesehen: Mario Schröders „Goldmund oder die Gier nach Leben“ in Kiel, Daniel Goldins „Winterreise“ in Münster, irgendeins der Programme von Gregor Zöllig in Osnabrück und von Franz Huyer in Görlitz, Torsten Händlers „Coppelia“ in Chemnitz, Ralf Dörnens „Frida Kahlo“ in Greifswald, Ralf Rossas „Schlafes Bruder“ in Halle – gern im Austausch gegen die längst wieder vergessenen „Picasso“ in Bonn, „Othello“ in Hannover und „Imitation“ in Freiburg, auf die ich gut hätte verzichten können.

Kommentare

Noch keine Beiträge