Berlin-Tanz: eine etwas andere Perspektive

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Stuttgart, 06/01/2004

Berlin: ein Tanzfass ohne Boden – eine Stadt, die von einer Tanzmisere in die andere schlittert – in der es immer noch weiter abwärts geht, nachdem der für möglich gehaltene Tiefpunkt abermals unterschritten wurde? Das kommt offenbar auf die Perspektive an! So versichert es uns jedenfalls Jess Curtis, Director of Gravity Physical Entertainment, transatlantischer Pendler zwischen San Francisco und Europa. Im Januar-Heft des amerikanischen Dance Magazine hat er einen Report veröffentlicht, „Berlin Now: The Scene“, in dem er die Spree-Metropole als ein Symbol der „globalen kulturellen Wegkreuzungen an der Grenze des ‚Alten‘ und ‚Neuen‘ Europa“ ortet. „Tänzer aus der ganzen Welt bevölkern die Trainingsklassen und Kompanien der Stadt, und die Sponsoren-Hinweise auf den Plakaten zahlreicher Kompanien künden von multi-nationalen Koproduktionen.“

Mr.Curtis konstatiert, dass es in Berlin offenbar eine ganze Kolonie tanzender Amerikaner gibt, darunter allein mehr als zwölf Choreografen – er nennt auch alle ihre Namen (von denen mir nicht ein einziger bekannt ist). Übrigens scheint er wohl selbst dazuzugehören – denn stolz verkündet er, dass er in Berlin erstmalig einem Kritiker begegnet ist, der einer seiner Arbeiten „Dramaturgie“ bescheinigt hat. Nicht nur Meg Stuart, deren letztes Stück „Visitors Only“ von der renommierten Volksbühne im früheren Ostberlin koproduziert wurde, sondern sie alle sind in den letzten drei Jahren bemerkenswert von Berliner Theatern, Studios oder Veranstaltungsorganisationen unterstützt worden.

„Das Erbe des sozialistischen Ostens hat Wohnungen und Studios hinterlassen, die leicht erschwinglich sind. Die kulturelle Landschaft umschließt eine weite Skala von Möglichkeiten, von Dutzenden von Werkstatt- und Performance-Räumlichkeiten bis zu den drei großen Opernhäusern und allem, was dazwischen liegt. Was den zeitgenössischen Tanz angeht, so sind die führenden Aufführungsstätten das Hebbel-Theater, das Schiller-Theater, die Schaubühne, das Theater am Halleschen Ufer, Podewil, Dock II, Tanzfabrik und die Sophiensäle.“ Donnerwetter – wenn man das so liest, wird einem erst richtig bewusst, wie reich es um den Tanz in Berlin bestellt ist! Und, laut Mr. Curtis, ist auch das Publikum vorhanden, die Vorstellungen zu füllen. „Oft ist es schwierig Tickets für den Tanz im August zu kriegen, das eins von Europas vordersten Tanzfestivals ist. Im letzten Jahr offerierte das Programm unter den zwei Dutzend Kompanien DV8, LaLaLa Human Steps, Anne Teresa de Keersmaeker/Rosas und Wim Vandekeybus/Ultima Vez. Aber die Tanzaficionados strömen auch zu den obskureren Veranstaltungen. Eins der begehrtesten Tickets in der Stadt ist das für die jährlichen Tanztage in den Sophiensälen: zwei Wochen lang Vorstellungen von Berliner Nachwuchschoreografen, die kuratiert werden von Barbara Friedrich, die als eine Art gute Fee des Berliner Tanzes fungiert.“

Dann listet Mr. Curtis noch die Namen der in Berlin ansässigen Choreografen zwischen Sasha Waltz und Christoph Winkler auf – welch eine reiche und inspirierende Umgebung! Nicht zu erwähnen vergisst er, dass die Stadt nah vor dem Bankrott steht, und dass der Kulturetat rechts und links beschnitten wird – auch dass die Winter unerträglich kalt, lang und grau sind. „Doch wer einen dicken Mantel hat und daran interessiert ist, eine pulsierende Tanzszene zu besuchen, sollte für Berlin einen Stopp auf seiner Reiseroute einplanen!“ Ähnliches las man übrigens schon im Dezemberheft der englischen Dancing Times, wo eine englische Leserbriefschreiberin ihren Landsleuten dringend riet, bei ihrem nächsten Deutschlandbesuch in Leipzig Station zu machen, um sich Uwe Scholzens Sinfonischen Ballettabend anzusehen. Wissen wir womöglich gar nicht, in welchen Tanzparadiesen wir in Deutschland leben?

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