Széged Contemporary Ballet

Stuttgart, 10/12/1999

Ungarisches Ballett und ungarischer Tanz sind bei uns weitgehend unbekannte Größen. Zwar gibt es in Deutschland höchst selten einmal ein Gastspiel einer kleineren Truppe oder sogar des Budapester Staatsopern-Balletts, und Choreografen wie László Seregi und Antal Fodor sind uns durchaus ein Begriff. Aber das war es dann auch schon. Was der zeitgenössische Tanz in Ungarn treibt, liegt für uns jedoch vollkommen im Dunkeln. Dem wird hoffentlich beim großen Ungarn-Festival des Stuttgarter Treffpunkts Rotebühlplatz im kommenden Jahr wenigstens etwas abgeholfen.

Dass dabei auf die hiesigen Tanzfreunde möglicherweise einige Überraschungen warten, das hat sich an den beiden Abenden angedeutet, an denen das Széged Contemporary Ballet, gewissermaßen als Appetithäppchen, im Rotebühltreff gastierte. Die im Nationaltheater von Széged beheimatete Company trägt ihren Namen allerdings zu Unrecht. Denn mit Ballett befasst sie sich anscheinend überhaupt nicht. Vielmehr pflegt sie eine sehr eigenständige, burschikose Manier modernen Tanzes, erzählt gerne skurrile Geschichten, überbordend von Humor und Körperwitz, unkompliziert, offen und gerade heraus, kraftvoll und mit mimischem Pfeffer deftig gewürzt. Die fünf jungen Damen, eine hübscher und knuddeliger als die andere, sowie ein riesiger und sechs kleinere Herren von sehr kerniger und liebenswürdiger Art stellen dem ungarischen Tanz mit ihrer Verve und ihrer nimmer erlahmenden Energie ein blendendes Zeugnis aus. Wenn es stimmen sollte, dass sie nur die Spitze eines gewaltigen Eisberges sind, dann gibt es ein neues Tanzland zu entdecken.

Nun sind die beiden gezeigten Stücke allerdings so furchtbar avantgardistisch nicht. Das dreißigminütige „Étienne“ von Philippe Blanchard und das gut einstündige „Homo Ludens“ von Tamás Juronics demonstrieren eher den Spaß am ausgelassenen Fabulieren und Veräppeln, als dass sie mit choreografischen oder dramaturgischen Finessen glänzten. Aber was macht das schon?

In „Étienne“ ist die Bühne zuerst von Sneakers übersät. Nach und nach kommen fünf Männer in schwarzen Anzügen hinzu, jeder zieht ein Paar an, probiert es aus – es beginnt ein merkwürdiges, mutwilliges Stampfen und Springen, mit dem sich das Quintett seinen eigenen Rhythmus schafft. Zu geschlagenem Kontrabass und Perkussion entwickeln sich immer skurrilere Situationen, in denen die Personen zunehmend eigene, abstruse Konturen gewinnen – jeder von ihnen will Étienne sein. Um kräftig streiten zu können, haben die sympathischen Ungarn sogar einige Sätze Deutsch gelernt. Wahrscheinlich ist jeder von ihnen Étienne.

„Homo Ludens“ ist noch eindeutiger. Es geht schlicht um die – für Außenstehende – komischen Beziehungen von Menschen. Auf einem von Gittern begrenzten Spielplatz tanzt eine Horde wilder Typen ihr Alltagsleben zu Kompositionen und Songs vor allem von Nino Rota und Elvis Presley. Bald entwickeln sich lustige, rührende und groteske Begebenheiten zwischen Paaren, die regelmäßig im entscheidenden Augenblick von der Meute gestört werden. Aber am Ende kriegt jedes Töpfchen sein Deckelchen und man schreitet gemeinsam frohen Mutes von dannen.

Diese schon hundertfach behandelten, oft selbst erlebten Situationen wirken bei den Ungarn so frisch und charmant, so unbefangen heiter und mit entzückenden Details geschmückt, als hätte man sie zum ersten Male gesehen. Und sie tanzen und springen wie die Kobolde umher, pusten die Backen auf und rollen mit den Augen, dass man beinahe vergisst, welcher hohe technische Standard ihnen eigen ist, ohne den sie solche Kapriolen unmöglich schlagen könnten. Wie schön, wenn man beim Tanz einmal aus vollem Herzen lachen darf. Bis zum nächsten Jahr.

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