Tanz (Aus) Bildung - Reviewing Bodies of Knowledge

Ein Kompendium verdrängter Fragen um Tanzbildung und Tanzausbildung

Berlin, 26/07/2006

„Welche ´Art´ von Menschen wollen wir denn auf dieser Weltbühne arbeiten sehen? Menschen, die nicht über das Reproduzieren von Formen hinausgehen und höchstens diese oder jene Variation anbringen? Oder lieber Menschen, die in der Lage sind, mit den Dingen, die die Welt ausmachen, künstlerisch zu spielen, also mit Struktur und konstituierenden Faktoren arbeiten, um uns eine neue, unbekannte Perspektive der Welt vermitteln zu können?“ (...) „Kann man Kunst unzeitgemäß praktizieren oder lehren? Kann man Kunst überhaupt lehren, ist Kunst als solche überhaupt zu vermitteln? Oder kann man eventuell nur Strukturen anbieten, mit denen Künstler für eine Weile arbeiten?“ (...) „Ist unsere eigene ästhetische Orientierung flexibel genug, um Bewegungen und Arten der Umsetzungen von Gedanken und Welt zu sehen, die unserer eigenen nicht entspricht?“

Der diskursiven Annäherung an diese von Tänzerchoreograf Thomas Lehmen prägnant gestellten Kernfragen widmen sich (fast) alle Beiträge dieser wichtigen Publikation. Die Texte (teils deutsch/englisch) sind eine Einladung zum Weiterdenken und deshalb allen Tanzschaffenden, Tanzlehrenden, Wissenschaftlern und leidenschaftlichen Sympathisanten des zeitgenössischen Tanzes zur intensiven Lektüre empfohlen.

Publiziert werden Beiträge zur Tanz(Aus)Bildung, die im Oktober 2004 auf einer hochkarätigen Fachtagung im Rahmen des 9. DANCE Festivals München als Ergebnis einer Zusammenarbeit des theaterwissenschaftlichen Institutes der Ludwig-Maximilian Universität München und der Universität Québec realisiert wurde. Der thematische Kontext Tanz(Aus)Bildung ist lebhafter wie spannender Bestandteil einer sich seither fokussierenden Debatte um den künstlerischen und gesellschaftlichen Stellenwert von Tanz. Die Publikation ist ein Kompendium wesentlicher Fragestellungen und ebenso ein mehrstimmiger Versuch zeitgemäße Antworten zu geben. Die hier spannend nachzulesenden Statements korrespondieren mit den jüngsten Aktivitäten von Tanzplan Deutschland und dem in Berlin von der Bundeskulturstiftung veranstalteten Tanzkongress „Wissen in Bewegung“ im April 2006.

„Tanz(Aus)Bildung hat den Versuch gewagt, zentrale Positionen sowohl aus der akademischen wie aus der wissenschaftlichen Betrachtung zusammenzutragen, um ein Bild dieser Entwicklung zu zeichnen“, so Franz Anton Cramer, der einleitend betont: „Kennzeichnend für nahezu alle Beiträge, aber letztlich für die Debatte um Tanz und seine Vermittelbarkeit seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart ist der Grundkonflikt zwischen definitorischer Hoheit eines einzelnen Stils bzw. einer einzelnen schulischen Ausprägung und der Gesamtheit tänzerischer Möglichkeiten, die in der individuellen Prägung und Aneignung jeweils neu entstehen. Kann es vor diesem Hintergrund überhaupt einen verbindlichen Kanon der Technik, des Wissens, der praktischen Fertigkeiten im Tanz geben? Und falls nicht: Wie ist dennoch Ausbildung möglich? Welche Inhalte werden vermittelt und auf welcher Grundlage?“

Claudia Jeschke fragt nach der künstlerischen Identität von Tanz, und präzisiert, von welchem Tanz, in welcher Tradition? Sie konstatiert, dass Tänzerinnen wie Tänzer in ihren theoretischen Interessen oft allein gelassen sind, ohne eine Orientierung (lot) im intellektuellen und kritischen Denken. „There are BA and MA courses in dance, claiming for more theoretical and historical expertise. But who is going to teach them, and how?“ Franz Anton Cramers im Detail befragenswerter Diskurs „Essentialising Dance?“ zum subversiven Körperwissen kulminiert in der Aufforderung, die Lücke zwischen körperlichem und sprachlichem Ausdruck zu schließen. Fundamental, ungeschönt und in der Tat „A Call To Action“ - Max Wymans Untersuchung zum Stellenwert von Tanz in der neuen Weltordnung des globalisierten 21. Jahrhundert. „Modern western society assigns the arts a place on the fringes of our existence, yet the creative impulse is part of what makes us who we are as human beings. (...) We have locked the arts in an ivory tower, and given people the impression they have to have a golden key of understanding if they want to get in. (…) I would argue that it is time for the dance community, particularly dance scholars, dance writers and dance educators, to reconnect the artform to the broad public – to become the interface between the act of creation and the imaginative activity that art liberates.“

Wyman konstatiert eine Sehnsucht nach neuen, primär humanistischen Leitwerten im 21. Jahrhundert. Künstlerische Kreativität sieht er als Grundlage für die Entwicklung von flexiblem und nuanciertem Denken ebenso wie Kunst und Kultur als Zentrum zur Gestaltung einer neuen Beziehung zwischen Technologie und Gesellschaft. Wymans Beitrag ist ein leidenschaftliches Plädoyer für den neuen Stellenwert von Kultur in allen Bereichen der Gesellschaft. „How do we make serious steps toward public ownership?“ Korrespondierend damit erscheint Andrée Martins Untersuchung zu „Cultural Identity And Dance. Body In Society“. Martin konstatiert „ By extension Man and the body are so desanctified, detached from the overall scheme of the universe that have both lost their spiritual and symbolic dimensions and fallen into a materialistic vision of the beeing and the world. The result is that man is increasingly absent from his body nowadays.“

Marie Beaullieu stellt die Beziehung von Theorie und Praxis in der zeitgenössischen Tanzausbildung an der Tanzabteilung der Universität Québec à Montréal dar, wobei sie das Ziel ganz klar an den Anfang ihrer Darlegungen stellt. „ In Québec, the marriage between professional dance training and a university diploma was a way to secure the survival of contemporary dance.“ Ihre Gedanken zur Choreografie-Ausbildung und dem Stellenwert von der Vermittlung theoretischen Wissens für die sich herausprägende Künstlerpersönlichkeit sind hochaktuell. „How can we find a balance between theory and practice when the university demands advanced cognitive skills and the dance milieu requires highly qualified dancers of international caliber?“ Im Folgenden untersucht sie, wie sich die Tanzausbildung der Universität Québec diesen divergierenden Anforderungen stellt, in dem sie die Grenzen und die Notwendigkeiten der Universität einerseits respektiert und gleichzeitig auf die sich ständig verändernden und zunehmenden Ansprüche der darstellenden Künste reagiert. Eine akademische Tänzer- und Choreografenausbildung fördert ihrer Erfahrung nach kritisches Denken und die Fähigkeit zur Artikulation der eigenen Ideen. Gleichzeitig erfordert diese Ausbildungsform von den Lehrenden „cross-fertilization between theory and practice“ in einem offenen kreativen Prozess.

Den interessanten Blick über den deutschen Tellerrand ermöglicht ebenso der historische Exkurs von Jeroen Fabius über 30 Jahre Tanzausbildung an der School For New Dance Development Amsterdam (SNDO), einer der Talenteschmieden des zeitgenössischen europäischen Tanzes.

Dieter Heitkamp stellt den Prozess der Umwandlung des Ausbildungskonzepts des Ausbildungsbereichs Zeitgenössischer und Klassischer Tanz an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main als Konsequenz „einer Entwicklung im europäischen Tanz wie auch einer veränderten Situation der Tanzkompanien an deutschen Theatern sowie auch der wachsenden Bedeutung der ‘freien’ Tanzszene“. Er legt die Schwerpunkte und fließenden Inhalte einer interdisziplinären Ausbildung dar und untermauert faktenreich seinen Grundsatz: „Technik und Kreativität müssen parallel entwickelt und gefördert werden. Tänzerinnen und Tänzer müssen heute flexibel auf unterschiedlichste Anforderungen reagieren können. Die Neugierde und die Bereitschaft, Neues zu erlernen, sollte nicht mit dem Studium aufhören.“

Dieses Buch stellt Grundfragen in kausale Zusammenhänge von hoher Aktualität. Die Diskussion muss weitergehen.

 

Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Cornelia Albrecht und Franz Anton Cramer (Hg.): Tanz (Aus) Bildung Reviewing Bodies of Knowledge Reihe INTERVISIONEN, Band 7 epodium, München 2006 ISBN 3-9808231-5-6 230 Seiten, Euro 29,- Mit Beiträgen von: Cornelia Albrecht, Marie Beaulieu, Edith Boxberger, Franz Anton Cramer, Jeroen Fabius, Nicole Haitzinger, Dieter Heitkamp, Claudia Jeschke, Constanze Klementz, Thomas Lehmen, Andrée Martin, Max Wyman.

 

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