Ivor Guest: „Ballet under Napoleon“

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Stuttgart, 21/08/2002

Neunundzwanzig Titel listet das Frontispiz des neuen Buches von Ivor Guest auf, und es ist nicht ein einziger darunter, der uns nicht wichtige neue Informationen über die Geschichte des französischen und englischen Balletts beschert hätte. Das gilt auch von seinem neuesten Opus: „Ballet under Napoleon“ (Dance Books, Alton/Hampshire 2002, 528 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 35 $; ISBN: 185273 082X). Ja, man ist versucht, es als das opus magnum des inzwischen Zweiundachtzigjährigen zu bezeichnen.

Sozusagen der krönende Schlussstein seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Pariser Ballett, behandelt es die in der Ballettgeschichtsschreibung bisher ungebührlich zu kurz gekommenen Dezennien zwischen der Aufklärung und der Romantik. Also nicht nur das napoleonische Zeitalter, sondern auch die voraufgegangenen Turbulenzen der französischen Revolution sowie die nachfolgenden Jahre der Restauration. Es sind die Jahrzehnte, da Pierre Gardel zusammen mit seinem Vize Louis Milon als Souverän über das Ballett der Pariser Opéra herrschte – das Zeitalter der großen historisch, beziehungsweise literarisch inspirierten Handlungsballette, Opernballette und Divertissements – eine Zeit der großen Tänzerpersönlichkeiten zwischen Gaetan Vestris, dem Dieu de la danse, nebst Dauberval, Noverre, Henry, Duport, Didelot und Auguste Vestris und der Damen Marie Gardel, Bigottini, Aubry und Gosselin – eine Zeit auch der großen stilistischen Umbrüche (Niedergang der Pantomime, Steigerung der Virtuosität) – und nicht zuletzt der großen Kabalen und Intrigen. Fassungslos stehen wir heute aber auch vor dem Niveau der ausführlichen publizistischen Berichterstattung über diese Vorstellungen.

Dies waren aber auch die Jahre, in denen sich das Ballett die Anerkennung seiner Gleichberechtigung neben und mit der Oper erstritt – und nicht zuletzt die Jahre einer Verflechtung von Ballett und großer Politik, wie wir uns das heute überhaupt nicht mehr vorstellen können. Mit Staunen registriert man, wie intensiv sich Napoleon um das Ballett gekümmert hat – selbst auf seinen Feldzügen auf dem europäischen Kontinent.

Man liest und liest – und die Augen gehen einem über, denn Mr. Guest ist nicht nur ein Wissenschaftler strengster Observanz mit umfassenden Quellenkenntnissen, Archiv- und Bibliotheksstudien, sondern auch ein brillanter Geschichtenerzähler, so dass man die 35 Kapitel zwischen „Surviving the Terror“ (1791) und „Farewell to the Master“ (Gardels Tod 1827) geradezu verschlingt – als eine Sozialgeschichte des französischen Balletts, wie es sie bisher nicht gegeben hat.

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