Zwischen Krise und Normalität – ein Spagat

Lebensfreude vs. Bedrohung: „Walzer in Zeiten der Cholera“von Alexander Bartl

Erst rollt der Walzer durch Wien, dann die Cholera. Das Buch von Alexander Bartl zeigt dank historischer Recherchen, welche Parallelen wir zur heutigen Situation entdecken können.

Eine Welt der Kontraste: Eben erst erobert der Walzer, die leichte Muse, die gesamte Wiener Gesellschaft. Quer durch alle sozialen Schichten ist der Tanz, ob rechts- oder linksherum gedreht, gesellschaftsfähig geworden – ungeachtet der hereinbrechenden Cholera mit ihren verheerenden Folgen.

Wiens Umgang mit Cholera, dem Wiener Walzer und der anstehenden Weltausstellung vor etwa 150 Jahren sind Gegenstand des aufschlussreichen und empfehlenswerten Buches „Walzer in Zeiten der Cholera“ von Alexander Bartl, der für das Buch lange vor Corona recherchierte, wie er in seinem Nachwort schreibt. Ausgebildet an der Ballettschule der Wiener Staatsoper machte sich Bartl nach seinen Studien der Film-, Theaterwissenschaft und Publizistik als Journalist unter anderen bei der FAZ und als Textchef beim „Focus“ Berlin einen Namen.

Die umfangreiche Quellenlage und sein Studium zur Wiener Medizin des 19. Jahrhunderts, zur Forschung zur Wiener Weltausstellung und zur Entstehung des Wiener Walzers hat es Bartl ermöglicht, ein facettenreiches Gesellschaftsporträt Wiens zu zeichnen. Parallelen zur heutigen Corona-Situation sind unübersehbar: Die rigorosen Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche standen und stehen im Kontrast zur Sehnsucht nach der Normalität.

Im Unterschied zu heute stand die medizinische Wissenschaft allerdings mit ihren Erkenntnissen zur Hygieneforschung noch in den Kinderschuhen. Die Idee, eine Wasserleitung zu errichten, um Wien mit klarem Trinkwasser aus den Alpen zu versorgen, war lang umstritten. Man hatte ja das (verschmutzte!) Donauwasser. Als größenwahnsinnig, als zu ambitioniert wurde lange Zeit das Bauprojekt der 1. Wiener Hochquellenleitung kritisiert. Das war im Jahr 1869, bevor mit Max von Pettenkofer und Robert Koch die Seuchenforschung an Fahrt aufnahm und mangelnde Hygiene für den Ausbruch von Krankheiten verantwortlich gemacht werden konnte. Auch die Entdeckung des Cholera-Erregers durch Robert Koch im Jahr 1883 lag zu Baubeginn der Wiener Wasserleitung im 1869 zwar noch in weiter Ferne. Doch die Forschung entwickelte sich rasant weiter und die Wiener Weltausstellung stand vor der Tür. So entschloss man sich, nun nach den damals neuesten Erkenntnissen der Seuchen- und Infektionsforschung, zum Bau der 1. Wiener Hochquellenleitung, gerade noch rechtzeitig vor dem Ende der Wiener Weltausstellung. Am 24. Oktober 1873 wurde die Wasserleitung feierlich eröffnet und versorgt seitdem – bald 150 Jahre – Wien mit frischem Wasser.

1873 war aber auch das Jahr des Börsensturzes einerseits und des Walzerrausches andererseits.
Von Interesse dürfte die kürzlich erschienene Studie über das Bedürfnis der Wiener nach unbeschwertem Tanzen sein. Wie diese einzuordnen ist, wird sich noch erweisen. Fest steht, und das macht die Lektüre dieses faktenreichen Buches von Bartl deutlich, dass gut 150 Jahre später die Parallelen zur Coronaseuche verblüffend sind. Ebenfalls unstrittig ist, dass die Sehnsucht nach Normalität damals wie heute ungebrochen ist.

Die lebendigen und erkenntnisreichen Schilderungen von Alexander Bartl sind aus verschiedenen Gründen lesenswert. Zum einen werden in dieser Zeit des Umbruchs politische Entwicklungen nicht nur Wiens, sondern auch Europas, insbesondere der Umgang mit der Choleraseuche deutlich vor Augen geführt. Der Leser erhält damit auch Einblicke in die k.u.k.-Verhältnisse: Die Rolle der Mediziner Skoda und Rokitansky wird beleuchtet. Zum anderen erhalten die fast in Vergessenheit geratenen Visionäre wie Cajetan Felder und Eduard Suess die dafür eintraten, Wien mit sauberem Wasser zu versorgen, ihre angemessene Wertschätzung. Immerhin fühlte sich Eduard Strauss ein Jahr nach der Eröffnung der Hochquellenwasserleitung zur Komposition einer Mazurka inspiriert: „Die Hochquelle“, op. 114. Schließlich ist Bartls geschichtliche Darstellung „Walzer in Zeiten der Cholera“ nicht nur als eine Reverenz an die medizinische Forschung und an die Urheber der besonderen Wasserleitungen zu verstehen. Bartls Publikation ist auch ein Zeugnis der Wertschätzung des Walzers selbst und damit der Künste im Allgemeinen zu betrachten - auch oder gerade in Zeiten von Corona.

Alexander Bartl: „Walzer in Zeiten der Cholera - Eine Seuche verändert die Welt“, Verlag Harper Collins, 2021, ISBN: 9783749902385, 24,00 €

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