Die Ballerina aus dem afrikanischen Krieg

Neuerscheinung: „Ich kam mit dem Wüstenwind“

Michaela DePrince, die 2012 mit dem Film „First Position“ bekannt wurde und gerade zur Elevin am Het Nationale Ballet aufgestiegen ist, hat eine Autobiografie über ihr teils grausames, teils rosarotes Leben geschrieben.

Michaela DePrinces Geschichte gleicht einem Märchen. Die Ballerina, die 2012 mit dem Film „First Position“ bekannt wurde, lebte bis sie fünf Jahre alt war in Sierra Leone, einem westafrikanischen Land, das in den 90er Jahren von einem grausamen Bürgerkrieg zerrissen wurde. 1994: Michaelas Vater wird von Rebellen erschossen, ihre Mutter stirbt an einer Krankheit und ein raffgieriger Onkel verkauft das Mädchen, das damals noch Mabinty Bangura heißt, an ein Waisenhaus. An dessen Gitterpforte weht der Wind Michaela eines Tages eine Zeitschrift zu, darin findet sie das Bild einer Balletttänzerin. Seither ist es um sie geschehen. Sie will Ballett tanzen, um jeden Preis.

„Ich kam mit dem Wüstenwind“ heißt Michaela DePrinces Autobiografie auf Deutsch. Ein schönerer Titel als der des US-Originals („Taking Flight“), der - passend zur Jahreszeit von Michaela-Mabintys Geburt und auch passend zum Zeitpunkt ihrer Adoption in eine US-amerikanische Ostküstenfamilie - gewählt wurde, der Zeit des Wüstenwindes Harmattan. Auch der Rest der Übersetzung von Ilse Rothfuss hat einen geerdeten Fluss und ist frei von modischem Slang. Keine falsche Fernseh-Kitsch-Atmosphäre kommt auf, stattdessen befindet sich der Leser in derselben Realität, wie er sie aus Bess Kargmans Dokumentation über junge Balletttalente kennt. „First Position“ ist die Ursache von DePrinces Biografie: Das Publikumsinteresse an der afrikanischen Ballerina, die obendrein an der Weißfleckenkrankheit leidet, wurde durch den Film so überwältigend, dass sie nun einfach Stellung nehmen und aus ihrer Kindheit erzählen muss.

Besonders spannend ist denn auch der erste Teil des Buchs, der in Sierra Leone spielt. DePrince erinnert sich detailreich an ihre liebevollen afrikanischen Eltern, die ihr Lesen beibrachten und Schulgeld sparten. Oder an ihren giftigen Onkel Abdullah und das Waisenhaus, in dem sie nur die Nummer 27 war. Auch Szenen, die ein Kind nie vergisst, beschreibt die Tänzerin: Die Angst, die sie als kleines Kind vor den randalierenden Rebellen empfand, der Anblick von verstümmelten Leichen am Straßenrand, den Mord an ihrer hochschwangeren Lehrerin. Michaelas Adoptivmutter Elaine DePrince tritt in diese Hölle wie ein rettender Engel. Sie holt gleich zwei, später noch ein drittes Mädchen aus dem Waisenhaus in die westliche Welt. Wer jemals die Adoption afrikanischer Kinder in Frage stellte, bekommt hier einen lebendigen Einblick in die Sicht des Kindes: Für die Kleinen, auch Michaela, dreht sich alles um Gesundheit, genügend Essen und Liebe. Die Ballerina schreibt gegen Ende des Buchs offen, dass sie keinen Kontakt zu angeblichen Verwandten wünscht, die sich aufgrund ihres Ruhms nun gemeldet haben, und dass sie ihre Adoption als unglaublichen Glücksfall begreift.

Nur so konnte sie schließlich Ballerina werden. Michaelas Ausbildung an der Rock School for Dance Education in Philadelphia bildet den größeren zweiten und uninteressanteren Teil der Biografie. Die für ein Laienpublikum geschriebene Erzählung dreht sich seitenweise um die Rollen, die Michaela und ihre Schwester in diversen „Nussknacker“-Aufführungen tanzen dürfen – anscheinend das einzige Ballett, das in den USA außerhalb von New York und San Francisco bekannt ist. Auch der zweiseitige Prolog zu Michaelas Auftritt als schwarzer Schwan bleibt merkwürdig oberflächlich. Der Blick in den Ballettsaal wird einfach an keiner Stelle so plastisch und farbig wie Michaelas Erinnerungen an Afrika, was vermutlich daran liegt, dass die ganze aktuellere Handlung wohl Michaelas Mutter Elaine verfasst hat. Ein erfahrenes Ballettpublikum wird sich hier langweilen.

Ehrlich ist die Biografie dann, wenn es um Michaela selbst geht. Beispielsweise wird ihre dunkle Hautfarbe nicht unter den Teppich gekehrt. Sie ist ein Problem in der Ballettwelt. „Wo sind all die schwarzen Ballerinen?“, fragt Michaela und versichert, sich für eben diese mit ihrem Buch einzusetzen. Das stimmt traurig. Denn Schwarzer Schwan schön und gut, aber wer wird je Odette, Raymonda oder Tatjana mit einer Afrikanerin besetzen? Die Komplikationen fangen schon bei der Tutu-Farbe an, derer Michaela nicht jede tragen kann: In Rot versinkt sie, in Rosa bekommt sie kurze Beine, Strumpfhosen und Spitzenschuhe müssen stets braun gefärbt werden.

Schweigsam bleibt das Buch dagegen, wenn es um Familienangelegenheiten geht. Warum die DePrinces insgesamt sechs afrikanische Kinder adoptieren, erklärt Elaine so: „Wir fühlten uns gesegnet, und wenn man so privilegiert ist, muss man Verantwortung übernehmen.“ Ob eigene Kinder nicht möglich waren, oder wie die Familie die Ausbildung so vieler Kinder, eines davon Balletttänzerin, finanziell stemmt, wäre interessant zu erfahren.

Seit der Saison 2013/2014 tanzt die inzwischen 19-Jährige Michaela DePrince am Het Nationale Ballet in den Niederlanden; diesen Herbst steigt sie dort von der Volontärin zur Elevin auf. Für die Entscheidung, dieses Engagement anzunehmen, gebührt ihr Respekt. Denn in den USA könnte sie im Moment sicher schnellen Ruhm ernten und in Tanzfilmen spielen. Auch das Leben fern von Zuhause, ohne ihre Mutter, dürfte ihr schwer fallen. Sie meint es ernst mit dem Ballett. Man darf gespannt sein, auf welchen Brettern man sie in Zukunft sieht.

Michaela und Elaine DePrince: „Ich kam mit dem Wüstenwind. Wie mein Traum vom Tanzen wahr wurde.“ Cbt/Random House, 272 Seiten, 12,99 Euro

 

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