„Les veilleurs“ von Josef Nadj

Ludwigsburg, 02/09/2000

Nun ist Josef Nadj, der „ungarische Franzose“, Albtraumdeuter und Choreograf, zum dritten Mal bei den Ludwigsburger Festspielen gewesen und hat mit seiner jüngsten Kreation deren höchst erfolgreiche Reihe „Performdance“ würdig beendet.

Nach „Comedia Tempio“ im Jahre 1995 und „Le cri du caméléon“ im Jahre 1998, behandelt auch „Les veilleurs“ (Die Gruftwächter) Nadjs ewig gleiches Thema, den Menschen nämlich, der in eine für ihn nicht mehr überschaubare und erst recht nicht mehr beherrschbare Situation gerät, jenen bedrückenden Zustand also, wie ihn das Gehirn gelegentlich zwischen Wachen und Traum hervorruft. Für einen Künstler diesen Zuschnitts ist das literarische Oeuvre Franz Kafkas wie geschaffen. Und Nadj nennt denn auch mehrere Werke seines Lieblingsdichters als Inspirationsquelle, ohne dass er sie freilich direkt in eine Bühnenhandlung verwandelt.

Die verfremdenden Geschichten Kafkas szenisch wiederum zu verfremden – das ergibt ein Tableau der sich bedrohlich auflösenden Realität, auf dem sich alles in unvermutete Richtungen entwickelt, auf dem die Individuen ihre Mitte verloren haben, fortwährend ins Leere greifen und die Existenzangst in Zeitlupe herrscht.

Die Bühne des Forum-Theaters ist von Michel Tardif mit unzähligen Spielebenen ausgestattet worden, eine weitere, erhöht angeordnete, mit einem weißen Vorhang verschlossene Bühne, über ihr noch eine Etage, verhängte Kästen, Treppen, im Hintergrund auf halber Höhe ein winziges Bett. Grobschlächtige Männer in engen, schwarzen Anzügen und Mänteln, wie die Unholde in Charles Chaplins Filmen, tragen sich an ihrer Kleidung umher, falten sich gegenseitig zusammen, schlüpfen in Tische, werden einander zu Buckeln. Sie ragen waagerecht von einer Wand in den Raum, quellen aus Türen, transportieren schlanke Frauen in langen Kleidern, lassen sie auf einem Trinkglas Pirouetten drehen.

Das alles geschieht mit einer gewissen, gleitenden, verblüffenden Eleganz, wie überhaupt die körperliche Leichtigkeit und äquilibristische Virtuosität dieser ungefügen Kerle erstaunt. Nichts ist wirklich zu fassen oder gar zu begründen.

Josef Nadj, dessen zwölfköpfige Truppe inzwischen als Centre Choréographique National d‘Orléans firmiert, gibt auch in diesem Stück seinem Faible für technisch ausgefuchste Spielereien nach, etwa wenn er einen Mann mit einem Propeller scheinbar solchen Wind erzeugen lässt, dass es einem anderen buchstäblich die Kleider vom Leibe reißt, oder wenn er eine der Frauen aus großer Höhe in die Tiefe stürzen lässt.

Im Grunde nutzt Nadj Kafkas Phobien dazu, uns seine eigene Verstörtheit miterleben zu lassen, die Zartheit seiner Gefühle, die schwebende Beklemmung seiner grauen Befürchtung, dass die Welt gar nicht so sein könnte, wie sie zu sein scheint. Zur so beschwingten wie melancholischen Akkordeon-Komposition „Varieté“ von Mauricio Kagel träufelt er, oft durchaus abstrus humorvoll, etwa wenn eine Tänzerin die gewaltigen, nackten Oberkörper dreier Herren klatschend und patschend als Terrain fürs Extremklettern nutzt, sein süß-bitteres Gift in die Gehirne des Publikums, das sich unvermittelt seinen eigenen Schrecken ausgesetzt sieht. Und ganz nebenbei beweist Nadj eindrucksvoll die Richtigkeit der Behauptung, dass der Tanz da beginnt, wo die Worte aufhören.

Kommentare

Noch keine Beiträge